Alice Schwarzer schreibt

Die SS des Patriarchats

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Sind Sie eine Frau? Wenn ja, dann stellen Sie sich nur einmal und wenigstens ein paar Minuten lang Folgendes vor: Wir leben in einer Welt, in der es alle Freuden und Probleme gibt, die Sie kennen. Liebe und Hass, Freiheit und Abhängigkeit, Sinnlichkeit und Gewalt. Nur ein Problem gibt es nicht: Es gibt auf der Straße keine Sexualverbrecher mehr, weder Vergewaltiger noch Lustmörder. Es gibt zwar immer noch die private (Sexual) Gewalt gegen Frauen, aber wenigstens keine öffentliche mehr.

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Können Sie sich vorstellen, wie wir Frauen uns in einer solchen Welt bewegen? Wie wir durch die Straßen schlendern. Wie wir in langen Sommernächten im Park sitzen (zwar immer noch auf der Hut vor Räubern, aber befreit von der Angst vor Vergewaltigern). Wie wir auf Abenteuerreisen gehen, quer durch den Dschungel der Städte und der Natur. Wie frei wir wären, relativ frei. Wie Übermütig und verwegen. Es wäre ein anderes Leben! Ein Leben, von dem jeder Mann weiß. Ein Leben, von dem Frauen noch nicht einmal etwas ahnen.

Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist seit Jahrtausenden ein Machtverhältnis, in dessen Strom sich nur Einzelne auf Inseln der Zärtlichkeit und des Respekts retten können. Unterm Strich aber profitieren Männer und zahlen Frauen drauf. Machtverhältnisse aber, auch die zwischen den   Geschlechtern, funktionieren nur, solange die Unterdrückten stillhalten. Dazu müssen sie Angst haben, müssen den Preis der Auflehnung kennen. Und die, die rebellieren, müssen diesen  Preis zahlen, sichtbar zahlen. Das ist logisch. Zur wahren Machterhaltung aber gehört E immer auch die scheinbare Unlogik: die Willkür des Terrors. Es kann jede treffen. Egal, was sie tut.

Für uns Frauen bedeutet das: Eine jede ist Opfer von Sexualgewalt oder kann es werden — egal wie stark oder selbstbewusst sie ist. Für die Männer heißt das: Ein jeder ist Täter oder kann es werden — egal wie gerecht oder bewusst er ist. Denn das Furchtbare ist, dass der Mann seinen eigenen Körper zur Waffe gemacht und Liebe und Hass schier unlösbar verknüpft hat. Diesen Körper haben Frauen lieben und hassen gelernt. Alle Frauen wissen um die Gefahr, auch die, die sie nicht wahrhaben wollen. Unsere Mütter haben sie uns zugewispert, oft ohne Worte. Unsere Schwestern werden vor unseren Augen ihre Opfer. Und unseren Freunden sind wir dankbar, wenn sie keine Täter sind. Denn dieses Wissen um die drohende Erniedrigung und Zerstörung sitzt tief in uns allen. Es prägt jedes Gefühl, jeden Gedanken, jede Regung. Und sollten wir es in Momenten des Übermuts einmal vergessen, dann erinnert uns spätestens die rituelle Tagesmeldung über die Vergewaltigung oder den Sexualmord von nebenan wieder daran.

Im Interessenkonflikt zwischen Völkern und Rassen wird geschossen und gebombt. Im Interessenkonflikt zwischen den Geschlechtern wird gerammelt und gewürgt. Aber erst der Lustmörder macht uns klar, dass wir Frauen der allerletzte Dreck sind. Eine, die man nicht nur dumm anmachen, antatschen und vergewaltigen kann, sondern eine, die man auch zerstören und zerstückeln kann. Eine, die Lust macht — Lust zu töten.

Auf dem Schlachtfeld dieses längsten und nie erklärten oder zugegebenen Krieges der Menschheitsgeschichte haben Vergewaltiger und Lustmörder eine zentrale Funktion. Vergewaltiger sind die „Stoßtrupps, die terroristischen Guerillas" (so Susan Brownmiller schon 1976). Und Lustmörder, Lustmörder sind die Elite, die SS des Patriarchats. Unabhängig von der jeweils subjektiven Verfassung der Täter sind ihre Opfer nie Zufallsopfer, sondern strategisch unentbehrlich zur Machterhaltung. Diese Opfer dienen der Einschüchterung aller Frauen: Seht her, das machen wir mit einer wie euch.

Die Militärsoziologin Ruth Seifert analysierte in EMMA (Juli/August 93), dass in Gesellschaften mit stabilen Geschlechterverhältnissen am wenigsten und in unstabilen am meisten vergewaltigt wird. Stabil meint: gefestigt gleich oder gefestigt ungleich. Instabil meint: erschüttert durch Fragen, die die Vorherrschaft von Männern infrage stellen. Sexualgewalt ist also keine Frage von Lust, sondern eine von Macht. Sexualgewalt ist ein politisches Instrument, und ihre Opfer sind politische Opfer. Dies zuende zu denken, ist bedrückend. Aber es ist auch ermutigend.

Denn nur wenn wir der Wahrheit ins Gesicht sehen, können wir sie auch begreifen — und beginnen, sie zu verändern. Von sympathisierenden Männern müssen wir die eindeutige Absage an jegliche Sexualgewalt verlangen, Hilfe beim Schutz von Frauen und Bekämpfung der Sexualverbrecher. Von einem Staat, der vorgibt, nicht länger Männerstaat, sondern Demokratie für alle sein zu wollen, ist zumindest das Ernstnehmen der Sexualgewalt zu erwarten, das Erkennen ihres Ausmaßes und ihrer Wurzeln sowie ihre Bekämpfung. Dazu gehört übrigens auch, dass die Täter endlich ernstgenommen werden. Denn nur die Erkenntnis von Schuld auch durch die Täter selbst ermöglicht auch die Verarbeitung und gibt damit eine Chance zur Veränderung.

Und wir Frauen? Verdrängen und Leugnen nutzt wenig. Sich Beugen, noch weniger. Doch die Schande ist nicht die der Opfer, sie ist die Schande der Täter. Erobern wir uns also den Stolz zurück! Greifen wir nach den Sternen — auch nachts.

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