Brigitte Neuß: Kämpferisch

Brigitte Neuss (Mitte) und ihre Mitstreiterinnen in der Kölner Schildergasse.
Artikel teilen

Die Frau in der Mitte ist Brigitte Neuß, 64 Jahre alt und Mutter dreier Kinder. Hier protestiert sie mit ihren Mitstreiterinnen von der Initiative „Mütter für Rentengerechtigkeit“ in der Kölner Schildergasse. Ihre Forderung haben die Frauen auf selbst genähte Schürzen und Stoffwindeln geschrieben, denn „Pampers gab’s damals nicht“. Brigittes Ehemann hat die Sprüche aufgepinselt.

Anzeige

Die Frauen sammeln Unterschriften gegen eine Ungerechtigkeit, die seit 21 Jahren im Rentengesetz steht und immer wieder festgeschrieben wurde. Mütter, die nach 1992 Kinder zur Welt gebracht haben, bekommen drei Rentenpunkte. Mütter, die vor 1992 ein Kind bekommen haben, nur einen. Konkret heißt das: Den jüngeren Müttern werden drei Erziehungsjahre angerechnet, macht 84 Euro im Monat pro Kind. Den älteren Müttern wird nur ein Jahr angerechnet, macht 28 Euro. Differenz: 56 Euro. Brigitte Neuß will, dass sich das ändert. „Wir fordern die gleiche Rente für alle Mütter!“.

Die Rebellin lebt in einem Haus mit üppig bepflanztem Vorgarten im rheinländischen Swisttal, einer Kleinstadt bei Bonn mit 20.000 EinwohnerInnen. In ihrem Flur hängen keine Demo-Plakate, sondern die Fotogalerie von den Kindern und dem Enkelkind. Auf ihrem Esszimmertisch liegt kein iPad, sondern ein Ordner, in dem sie ordentlich alles abgeheftet hat.

„Das hier ist unser Demo-Song!“ Brigitte Neuß zieht ein DIN-A4-Blatt aus einer Klarsichthülle. Der Song auf die Melodie von „Alle meine Entchen“ geht so: „Alle meine Kinder sind jetzt auch schon groß, sind jetzt auch schon groß, zahl’n Steuern ein und Rente, das ist ganz famos!“ Er bringt auf den Punkt, worüber Mütter wie Neuß verärgert sind und was Frauenverbände inklusive des Juristinnenbunds seit Jahren kritisieren: Die Rentenneuregelung zur Kindererziehungszeit aus dem Jahr 1992 hat die Mütter, die zu der Zeit bereits Kinder hatten, benachteiligt. Die höheren Ansprüche hatten fortan nur Frauen, die zukünftig Kinder bekamen. Eine im Rentengesetz einmalige Stichtagregelung. Genau die Frauen, die ihr Leben brav traditionell als Hausfrau und Mutter verbracht hatten und deshalb ohnehin kaum Rente erhalten, wurden bestraft. Brigitte Neuß geht es nicht nur um 56 Euro. Es geht um Gerechtigkeit. Und sie findet: „Wer sich nicht wehrt, macht was falsch.“

Brigittes Lebenslauf ist klassisch für ihre Generation. Nach dem Studium der Ernährungswissenschaft arbeitete sie als Lehrerin für Kunst und Hauswirtschaftslehre an einer Gesamtschule. Als sie 1978 schwanger wurde, erklärte der Schulleiter: „Entweder Sie sind in acht Wochen wieder da – oder Sie sind entlassen.“ Anspruch auf ­Elternzeit oder einen Kita-Platz gab es nicht. Brigitte ging.

13 Jahre lang blieb die Lehrerin zu Hause, danach wechselte sie von Job zu Job: leitete die Personalabteilung eines Catering-Unternehmens, arbeitete bei einem Steuer- und einem ­Versicherungs­berater. Zwei Jahre lang war sie Ortsvorsitzende der ­Arbeits­gemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen in Swisttal.

Brigittes Leben hat also viele Brüche, zwei sind besonders groß. Der erste kam 1960. Geboren in einem Dorf bei Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern, lebte sie bis zum Alter von elf Jahren in Ost-Berlin und zog dann mit ihren Eltern nach Leverkusen. Der zweite kam 2012: Brigitte, mittlerweile 63 Jahre alt, saß in ihrem Haus in Swisttal, den Rentenantrag auf dem Tisch und rechnete. „Da ist mir das alles erst so richtig klar geworden“, sagt sie.

Kurz darauf entschied die CDU auf ihrem Parteitag im Dezember, Mütter wie Neuß bei der Rente „schrittweise“ besser zu stellen. Doch Finanzminister Schäuble erklärte wenige Tage später in Bild, er hingegen sehe dafür „keinen Spielraum“ im Haushalt 2013. Grund: die Rettung von Griechenland. Da klingelte Brigittes Telefon und Freundin Ursula sagte: „Ich mach da was, das geht dich auch an. Da musst du unbedingt mitmachen.“ Zwei weitere Mütter kamen hinzu. Fortan war das „Kernteam“ zu viert.

Neuß blättert in dem dicken Ordner. „Wir haben dann erst mal recherchiert und herausgefunden, wie viel Protest es in der Sache schon gibt“, sagt sie. Während die Frauen ihre erste eigene Aktion am Weltfrauentag in Bonn vorbereiteten, tobte der Mütterrentenstreit weiter. Die Frauen-Union forderte: Rentengerechtigkeit für Mütter! Die SPD signalisierte Zustimmung. Die FDP war dagegen. Die Mütter für Rentengerechtigkeit sammelten 2.000 Unterschriften. Die ersten Tausend schickten sie im März, die zweiten Tausend im Mai an Kanzlerin Merkel und Sozialministerin von der Leyen. Eine Antwort der Kanzlerin steht aus, von der Leyens Büro schickte eine Eingangsbestätigung. Die hat Neuß auch in ihrem Ordner abgeheftet. Ebenso einen Zeitungsbericht darüber, dass Horst Seehofer und Angela Merkel sich darauf geeinigt hatten, den Anspruch der älteren Mütter auf immerhin zwei Rentenpunkte zu erhöhen. Allerdings erst nach der Bundestagswahl.

Die Mütterrente, ein Punkt im CDU-Wahlprogramm. Neuß schnauft verächtlich und klappt den Ordner zu. „Und wenn es soweit ist, heißt es wieder: Was schert mich mein Geschwätz von gestern.“

Diese Frau hat null Bock, politische Verhandlungsmasse im Wahlkampf zu sein. Und sie ist damit nicht alleine. Inzwischen schicken Frauen aus ganz Deutschland wöchentlich Unterschriftenlisten in das Haus in Swisttal. Nach der Sommerpause wollen die Mütter zur Kanzlerin nach Berlin fahren. Neuß wird dabei sein. Schon in ihrem Grundschulzeugnis stand übrigens: „Brigitte ist vorlaut.“

www.muetter-fuer-rentengerechtigkeit.de

Artikel teilen
 
Zur Startseite