Alice Schwarzer schreibt

Ein Abend in Würzburg

Erst nach der öffentlichen Diskussion wird echt debattiert. - Fotos: Daniel Peter
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Würzburg. Schön. Schon am Bahnhof ragen die Weinberge fast bis an die Gleise. Und auf der mittelalterlichen Mainbrücke stehen die Menschen mit einem Glas Wein in der Hand. Die „neue Fakultät“ ist auch schon ein paar hundert Jahre alt, und ich habe das Gefühl: In dieser heiteren, barocken Stadt lässt sich gut leben und studieren.

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Ich bin zum zweiten Mal zu einem Vortrag bei den Juristen an der Universität eingeladen. Beim ersten Mal hatte bereits im Vorlauf der Bischof protestiert. (Sowas gibt es in Franken noch – im Rheinland ist man als Feministin mit den Bischöfen ja quasi befreundet.) Aber das hatte den verantwortlichen Professor nicht gestört. Ein paar Jahre später lud er mich nun wieder ein. Doch diesmal sind es keine alten katholischen Männer, die protestieren, sondern junge linke Frauen. Nach meinem Vortrag habe ich nicht mehr den Eindruck, in Würzburg zu sein, sondern in Kreuzberg. Aber der Reihe nach.

In der aktuellen Ausgabe veröffentlicht EMMA eine kritische, sehr kritische Auseinandersetzung über die „beispiellose Abkoppelung des Universitäts-Betriebes von der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ und die „queere Liebe zum autoritären Islam“. Die AutorInnen, samt und sonders Intellektuelle aus der Queerszene, beklagen: ideologische Scheingefechte, Denkverbote und Gruppenterror. Eine besonders fatale Rolle spielen bei dieser Entwicklung manche Gender Studies und KulturwissenschaftlerInnen.

Diesmal protestieren keine alten katholischen Männer, sondern junge linke Frauen

Bis zu meinem Abend in Würzburg war ich in dem Glauben, dieses Problem beträfe nur die Metropolen und als „links“ geltende Unistädte. Jetzt weiß ich, dass der Bazillus des Gesinnungsterrors – und die daraus folgende Einschüchterung einer schweigenden Mehrheit – sogar eine so konservative Universität wie die von Würzburg infiziert hat.

Zu meinem Vortrag im Audimax waren über 500 Menschen gekommen, zusätz­liche Stühle wurden angeschleppt. Etwa zwanzig Prozent waren BürgerInnen der Stadt, überwiegend Frauen, der Rest Studierende, wenn auch nicht ausschließlich von der Juristischen Fakultät. Die hatte mich zu einem Vortrag über „Sexualgewalt, Interkulturalität und Recht“ eingeladen.

Ich habe frei gesprochen. Eine Stunde lang. Bin eingestiegen mit der „epidemischen, strukturellen Gewalt“ von Männern gegen Frauen auch unter Deutschen. Habe darauf aufmerksam gemacht, dass Vergewaltigung hierzulande ein „quasi straffreies Verbrechen“ sei, da nur jeder hundertste Täter auch verurteilt wird. Habe gesagt, dass neuerdings nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Eskalation dieser Gewalt registriert wird.

Stichworte: Die Kölner Silvesternacht 2015, in der über 2.000 Männer, quasi alle Nordafrikaner und „Araber“, mindestens 648 Frauen sexuelle Gewalt angetan hatten. Oder das Verbrechen in Hameln, einer von vielen „Ehrenmorden“: Der Mann hatte seine Frau, die es gewagt hatte, sich von ihm zu trennen, niedergestochen, sie mit einem „Galgenknoten“ an sein Auto angeseilt und sie durch die Innenstadt geschleift. Eine Art Hinrichtung. Die Frau überlebte, ganz knapp.

Neu ist, dass die Männergewalt gegen Frauen und Kinder sich nicht länger hinter verschlossenen Türen verbirgt, sondern öffentlich demonstriert wird. Von Männern, die aus Kulturen kommen, in denen Frauen juristisch wie faktisch total rechtlos sind. Grund: eine völlig ungebrochene patriarchale Tradition, die seit einigen Jahrzehnten zusätzlich angefeuert wird durch den frauenverachtenden Islamismus.

Ich toleriere selbstverständlich den Islam -
aber ich bekämpfe die Ideologie des Islamismus!

Gleich zu Beginn meines Vortrages hatte ich mehrfach explizit darauf hingewiesen, dass ich zwischen dem Islam als Glauben und dem Islamismus als Ideologie strikt unterscheide. Dass ich selbstverständlich den Islam toleriere, aber den Islamismus bekämpfe. Und dass die ersten Opfer der Islamisten die friedliche Mehrheit der MuslimInnen selbst seien. Sie haben wir im Stich gelassen. Mit ihnen müssten wir den solidarischen Schulterschluss suchen.

Ich habe erzählt, wie ich zusammen mit einer kleinen Frauengruppe aus Frankreich 1979 dem Hilferuf von Iranerinnen nach Teheran gefolgt bin. Diese Frauen hatten zuvor unter Einsatz ihres Lebens den Schah bekämpft. Ausgerechnet sie wurden am 8. März von den Revolutionsgarden des Ayatollah Khomeini aus den Universitäten und Büros nach Hause gejagt: „Zieht euch erst mal anständig an!“ Was heißt: verschleiert euch. Der seither im Iran andauernde religiöse Fanatismus und Regime­terror ist bekannt. Da wurde Frauen von den Revolutionsgarden auch schon mal ein verrutschter Schleier auf den Kopf genagelt. Von Gefängnis, Folter und Todesurteilen ganz zu schweigen.

Eine Frau mit Kopftuch ergriff als letzte das Wort.
Eine Frau mit Kopftuch ergriff als letzte das Wort.

Ich habe von Tschetschenien erzählt, wo Islamisten schon 1994 (!) die Scharia eingeführt haben. Und von Algerien, das schon in den 1990er Jahren ein quasi syrisches Schicksal ereilt hatte: Über 200.000 Tote kostete in den so genannten „Schwarzen Jahren“ der von „Gotteskriegern“ angezettelte Bürgerkrieg. Und ich habe auch erwähnt, dass ich gerade aus dem seither traumatisierten Algerien zurückkomme, wo ich zwei Wochen lang Gast einer befreundeten Familie war.

Aber wen schert schon, was man sagt?! Das halbe Dutzend jüngerer Frauen, die in einer Gruppe zusammenstanden und danach das Wort ergriffen, auf jeden Fall nicht. Sie wussten ganz offensichtlich schon vorher, was ich sage und denke. Eine las ihre Kommentare sogar schamlos sichtbar von einem Zettel ab. „Ich dachte, Sie reden über Feminismus“, sagte die Erste. „Aber Sie haben bisher nur gehetzt: Frauen gegen Männer. Und Deutsche gegen alle Algerier.“ – „Sie verteufeln alle Muslime“, sagte die Nächste. „Sie sind eine Rassistin!“ – „Sie wollen das Kopftuch verbieten“, erklärte eine Dritte. „Und Sie sind dagegen, dass Frauen sich freiwillig für die Burka entscheiden.“

"Frau Schwarzer, Sie verteufeln alle Muslime!"
"Sie sind eine echte Rassistin!"

Zunächst versuchte ich naiv klarzustellen, was ich wirklich gesagt hatte. Nämlich eine Stunde lang genau das Gegenteil: Dass die friedliche Mehrheit der MuslimInnen die ersten Opfer dieser Fanatiker sei. Dass ich das Kopftuch nicht verbieten wolle, sondern es meiner Meinung nach in einer Demokratie nur im Öffentlichen Dienst und in der Schule nichts zu suchen habe. Aber dass ich in der Tat die Vollverschleierung, also Burka oder Niqab, für einen schweren Verstoß gegen die Menschenwürde hielte.

 

Alice Schwarzer mit den StudentInnen der gSiK-AK Jura, ihre GastgeberInnen.
Alice Schwarzer mit den StudentInnen der GSiK-AK Jura, ihre GastgeberInnen.

Über all das hätten wir ja durchaus kon­trovers diskutieren können. War das wirklich so in Tschetschenien oder Algerien? Stimmt es, dass in Deutschland jede zweite sich selbst als „tief religiös“ bezeichnende Muslimin noch nie ein Kopftuch getragen hat? Und was wäre dann von dem Verdikt des Verfassungsgerichtes zu halten, das erklärt hat, das Tragen des Kopftuches sei ein „religiöser Imperativ“? Undsoweiterundsofort.

Vieles wäre eine lebhafte, durchaus auch kontroverse Debatte wert gewesen. Doch darum ging es meinen Gegnerinnen nicht. Es ging ihnen nicht um Fakten und Argumente, sondern um Unterstellungen und Diffamation. Eine Methode, die wir auch von Rechtspopulisten aller Länder zur Genüge kennen. Postfaktisch. Nachdem ich eine Stunde lang A gesagt hatte, warfen diese Frauen mir allen Ernstes vor, ich würde ja bedauernswerterweise immer nur B sagen – statt endlich auch mal A zu sagen.

Diese Methode des Postfaktischen
kennen wir auch von Rechtspopulisten

Das Phänomen ist meiner Politikgeneration wohlbekannt. In den 1968er und 1970er Jahren hießen diese Politsekten KBW oder KPDML oder Maoisten oder Trotzkisten. Ihr Diskurs war genauso verhetzt, wirklichkeitsfremd und stellvertretend (für „das Proletariat“) wie der dieser heutigen, pseudolinken Szene (für „die Muslime“), der jedoch fatalerweise zur Verbreitung ihrer wirren Ideen auch noch das Internet zur Verfügung steht. Und die Schlagworte heute lauten nicht mehr „Internationale“ und „Klassenkampf“, sondern „Intersektionalismus“ und „Antirassismus“.

Den Auftritt dieser fanatisierten Minderheit hätte ich darum an diesem Abend in Würzburg nicht weiter ernst genommen. Wäre damit nicht der Löwenteil der Diskussionszeit vergangen. Und vor allem: Hätten dazu nicht etwa 20 Prozent der Anwesenden geklatscht. War das nur die Minderheit derer, die sich über jedes Kontra gegen Schwarzer freuen? Und war das denen noch nicht einmal peinlich, einem solchen postfaktischen Auftritt Beifall zu spenden?

Alice Schwarzer nach geschlagener Schlacht - tatendurstig.
Alice Schwarzer nach geschlagener Schlacht - tatendurstig.

Es waren nur zwei Frauen ü50, also keine Studentinnen, die während der Veranstaltung offen gegenhielten. Die eine äußerte ihre Empörung über den Auftritt von Frauen unter der Burka im deutschen Fernsehen. Die zweite erinnerte an das Leid von Millionen zwangsverschleierten und entrechteten Frauen in den islamistischen Ländern. Reaktion: Höhnisches Gelächter bei der selbstgerechten (pseudo)linken Sekte. Eine von ihnen, besonders cool mit kahlgeschorenem Kopf und ­Tattoos, kommentierte: „Sie haben ja keine Ahnung von der Lebensrealität der Frauen in diesen Ländern!“ – Niemand im Saal widersprach diesem Zynismus.

Mir kommt das so vor wie in den 70er Jahren:
Da hießen die Sekten KWB, KPD, ML oder Maoisten.

Aber danach. Danach passierte das, was ich schon seit Jahrzehnten zum Überdruss kenne, und übrigens vor ein paar Wochen zum gleichen Thema an der renommierten „London School of Economics and Political Science“ erlebt hatte: Dutzende von Studentinnen und Studenten sprachen mich an. Tenor: Sie haben ganz recht! Gut, dass Sie das alles einmal gesagt haben! Ärgern Sie sich bloß nicht über diese Idioten, die sind gar nicht von unserer Uni! Und als ich zurückfrage, warum sie denn dann nicht auch selbst etwas gesagt hätten, antwortet mir ein junger Mann freundlich aber lapidar: „Die sind stärker als wir.“

Wie bitte? „Die“, das war doch nur ein Häufchen radikalisierter Ideologinnen. Und die sollen stärker sein als ein paar hundert StudentInnen? Was ist da nur los an den Unis? Lernen die Studierenden denn keine Fakten mehr?! Werden sie nicht zum kritischen Denken angeleitet?! Werden sie nicht zum präzisen, faktengestützten Widerspruch angehalten?!

Was ist nur los an den Universitäten?
Lernen die Studierenden kein kritisches Denken?

Danach sind wir, der Professor mit seinen engagiertesten StudentInnen und ich, noch in einen 700 Jahre alten Weinkeller gegangen, gut Essen und Trinken. Und Diskutieren. Die StudentInnen schüttelten nochmal den Kopf über die Sprüche der fanatisierten Clique – und rückwirkend auch über sich selbst: Dass sie dazu geschwiegen hatten. Und der Professor nahm sich vor, in seinen Kursen wieder stärker den Akzent auf Aufklärung und dialektisches Denken zu setzen.

Das war erfreulich. So erfreulich, dass alle mich noch zum Bahnhof begleitet haben, bis auf Gleis 6. Und da haben die WürzburgerInnen mir lange hinterhergewunken. Ich habe zurückgewunken.

Alice Schwarzer

Aktualisierte Fassung aus der Juli/August EMMA 2017

Zum Weiterlesen
„Der Schock – die Silvesternacht von Köln“, KiWi, 7.99 €.

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