Das Drama der Hannelore Kohl
Als im Juni 2017 Helmut Kohl starb, bat der Kölner Stadt-Anzeiger mich um einen Nachruf. In diesem Text thematisierte ich auch das Schicksal seiner ersten Frau, Hannelore, die 2001 Selbstmord begangen hatte. Da meldete sich eine Freundin, deren Mutter in ihrer Kindheit die beste Freundin von Hannelore gewesen war und bis zum Schluss mit ihr befreundet gewesen blieb. Sie freute sich, dass wenigstens ich bei der Gelegenheit auch an Hannelore Kohl gedacht hatte. Bei der Trauerfeier in Worms hatte nur Angela Merkel sie erwähnt.
Diese Freundin, selbst Ärztin, erzählte nun von einer ganz anderen Hannelore Kohl, die häufig in ihrem Elternhaus zu Besuch gewesen war, als sie noch Kind war. Hannelore sei interessiert, heiter und humorvoll gewesen – versank allerdings später vor aller Augen allmählich im Dunkel.
Die so genannte „Lichtallergie“ von Hannelore Kohl war eine psychosomatische Erkrankung, die man wohl hätte heilen können, wäre man den Ursachen auf den Grund gegangen. Ab Mitte, Ende Fünfzig litt die Frau an der Seite des noch amtierenden Bundeskanzlers unter dem Licht. Sie zog sich mehr und mehr ins Dunkel zurück, ging überhaupt nur noch nachts auf die Straße. Allen Ratschlägen, eine Therapie zu machen, widersetzte sie sich entschieden. Sie schwieg. Aber ihr Körper sprach nun eine überdeutliche, bildhafte Sprache.
Warum schwieg sie? Weil sie sich schämte. Eine fatale Mischung von Scham & Schuld trieb diese Frau letztendlich in den Tod.
Aber warum Scham? Aus mindestens drei Gründen: Da war der bewunderte Vater, der von den Alliierten als „Kriegsverbrecher“ gesucht worden war. Da war die Gruppenvergewaltigung der 13-Jährigen auf der Flucht, die sie an Leib und Seele zerstört hat. Und da war der Ehemann, der sie nicht mehr liebte und dann auch noch wegen der „Spendenaffäre“ stark in die Kritik geriet.
Durch Ereignisse, die nicht in ihrer Hand lagen, wurde die früh Traumatisierte immer wieder in die Scham & Schande zurückgestoßen. Bis sie irgendwann nicht mehr herausfand, sie lieber in den Tod ging, als auf den Grund der Scham zu blicken.
Die Ursachen ihrer Scham lagen tief. Hannelore Renner ist im deutschen Schicksalsjahr 1933 in Berlin geboren. Ihr ehrgeiziger Vater wurde früh Mitglied in der NSDAP, die nicht minder ehrgeizige Mutter gleich mit. Vater Wilhelm Renner machte rasch Karriere als Direktor einer Munitionsfabrik in Leipzig, die als „nationalsozialistischer Musterbetrieb“ galt. Die Familie Renner lebte nun im großbürgerlichen Stil, mit Personal und Automobil. Die Tochter war immer Klassenbeste.
In Vaters Betrieb werden auch Zwangsarbeiter eingesetzt. Und Juden. Die werden, wenn sie kaputtgearbeitet sind, ins KZ geschickt. Es kommt auch schon mal vor, weiß Heribert Schwan, der Biograf von Hannelore Kohl, dass der Werkschutz in Vaters Betrieb Renitente oder Unbrauchbare gleich selber liquidiert, zu hunderten.
Da überrascht es nicht, dass der „flüchtige Obersturmbannführer Renner“ nach dem Krieg von den Alliierten gesucht wird. Der „Wehrwirtschaftsführer“ gilt nun als „Kriegsverbrecher“, mehr noch: Er ist der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt.
Der bei Kriegsende 13-jährigen Hannelore kann das nicht alles verborgen geblieben sein. Vor allem, da die als „dominant“ geltende, lebenslang bei ihr lebende Mutter sich nie wirklich getrennt zu haben scheint von ihren früheren Überzeugungen.
Irgendwie schafft es der von der Tochter geliebte Vater, abzutauchen. Sie empfindet ihn als „warmherziger“ als die „kalte“ Mutter. Doch er fasst nie mehr richtig Fuß. Als der nach dem Krieg in den Augen seiner Familie zu Unrecht Verfolgte 1952 stirbt, munkelt man, er habe Selbstmord begangen. Seine Tochter wird ihm 49 Jahre später auf diesem Weg folgen.
Das Mädchen Hannelore wird auf der Flucht als 13-Jährige Opfer einer oder gar mehrerer Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten. Die richten sie körperlich so zu, dass sie im Krankenhaus „nur mühsam wieder zusammengeflickt“ werden kann. Vom Seelischen ganz zu schweigen.
Sie hatte das nie jemandem gesagt, noch nicht einmal ihrem Biografen. Aber ich wusste es schon lange. Helmut Kohl persönlich hatte es mir, der ihm eigentlich Unbekannten, 1998 am Rande eines TV-Interviews anvertraut. In der Hoffnung, dass ich mit seiner Frau darüber sprechen würde. Ich hatte es damals in der Tat ernsthaft erwogen – aber dann doch verworfen. Hannelore Kohl war mir fremd, und ich befürchtete, dass sie kein Vertrauen zu mir fassen würde. So genannte Emanzen waren ihr ein Gräuel.
Die Vergewaltigungen waren für Hannelore so traumatisch, wie für die Millionen Frauen, die nie darüber gesprochen haben. Sie hatte schweren Schaden an Leib und Seele genommen. Wegen ihres angeknackten Rückgrats („Die haben mich wie einen Zementsack aus dem Fenster geworfen“) musste sie lebenslang Schmerzmittel nehmen. Und auch ihr Verhältnis zur Sexualität muss von dieser grausamen Erfahrung überschattet gewesen sein.
Hannelores seit 1992 schwelende so genannte „Lichtallergie“ eskalierte, als Helmut Kohl 1998 die Wahl verlor. Denn er kam nicht, wie von ihr ersehnt, endlich in den Ruhestand nach Oggersheim. Da wartete seine Frau auf ihn, die seit ihrem 15. Lebensjahr an seiner Seite war, obwohl sie „die Politik“ lebenslang gehasst hatte. Nein, der Altkanzler rödelte weiter in Berlin, wo die Gerüchte über seine junge Geliebte immer lauter wurden. Er heiratete Maike Richter nach Hannelores Tod.
Und dann auch noch die Spendenaffäre. Die gab Hannelore den Rest. Sie schämte sich nun für den immer so Bewunderten. Einmal musste sie sich gar auf der Straße als „Spendenhure“ beschimpfen lassen. Sie akquirierte nun selber Spenden, um den Schaden wieder gut zu machen.
In ihren letzten Lebensjahren klagte Hannelore bei Freundinnen: „Ich verbrenne von innen.“ Von Ärzten, die die Diagnose „Lichtallergie“ infrage stellten, und versuchten, ihr zu erklären, sie habe kein physisches, sondern ein psychisches Problem und müsse sich dringend in therapeutische Behandlung begeben, trennte die Schwerkranke sich umgehend. Sie wollte die Wahrheit nicht wissen. Ihr Leben lang nicht.
Hat Hannelore Kohl, geborene Renner, selbst eigentlich je existiert? Oder ist sie immer ein relatives Wesen geblieben: als Tochter, Ehefrau, Mutter? In den dramatischen letzten Monaten ihres verschatteten Lebens wollte sie noch nicht einmal mehr mit ihrem Namen angesprochen werden. Auch nicht mit ihrem Vornamen. Die Scham hatte sie ausgelöscht.
Alice Schwarzer