"Wir kannten keine Rabenmutter"
In der Verfassung der DDR von 1949 wurde die Gleichberechtigung festgeschrieben: „Mann und Frau sind gleichberechtigt“ und „Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung entgegenstehen, sind aufgehoben“. In der Verfassung war auch festgelegt, dass „durch Gesetz der Republik Einrichtungen geschaffen werden, dass die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann“.
Die Förderung der Erwerbsarbeit von Frauen war die Basis der Frauenpolitik. Bereits 1950 waren 45 % der Frauen erwerbstätig, 1989 waren es knapp 90 % und meist handelte es sich dabei um Vollzeiterwerbstätigkeit. Zum Vergleich: In Westdeutschland waren 1990 54% der Frauen erwerbstätig, in der Regel in Teilzeit.
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Natürlich hatte die Förderung der Frauenerwerbsarbeit vor allem ökonomische Gründe. Der Staat brauchte dringend die Arbeitskräfte und die Familien das zweite Einkommen. Aber das Wichtigste bleibt doch: Die Frauen haben ihre ökonomische Unabhängigkeit und die Partizipation an der Erwerbsarbeit schätzen gelernt. Sie haben in die berufliche Ausbildung investiert, hatten den gleichen Bildungsgrad wie die Männer. Und sie nahmen auch in den frauenuntypischen technischen Berufen einen Platz ein, ohne dass es als Besonderheit angesehen worden wäre.
Erwerbstätige galten nicht als Rabenmütter, mussten sich nicht rechtfertigen. 90 % der gebärfähigen Frauen hatten 1990 mindestens ein Kind. Die Geburtenrate ging nach der Wiedervereinigung dramatisch zurück.
In der DDR mussten sich erwerbstätige Frauen nicht rechtfertigen
Ja, in den Leitungspositionen der Wirtschaft waren Frauen auch in der DDR unterrepräsentiert. Das Gleiche gilt für die höchsten politischen Ämter. Und ja, auch die Familienarbeit war den Frauen vorbehalten, hier war Ost und West schon immer fröhlich vereint.
Fest steht jedoch: Die breite gesellschaftliche Akzeptanz der Erwerbsarbeit von Frauen ist ein Gleichstellungsvorsprung im Osten Deutschlands gewesen. Und entscheidend war: Frauen fühlten sich gleichberechtigt. Ich sage aus eigener Erfahrung: Das war kein schlechtes Gefühl.
Und noch immer ist die Erwerbsarbeit und vor allem die Vollzeiterwerbsarbeit von Müttern in den neuen Bundesländern voll akzeptiert und auch bis heute höher als in den alten Bundesländern.
Wir sind mit sehr unterschiedlichen Frauen- und Familienbildern zusammengekommen. In kaum einem anderen Bereich lagen die Erfahrungen bei der Wiedervereinigung so weit auseinander. Dennoch finden wir in nahezu allen Berichten über die frauen- und familienpolitischen Entwicklungen ausschließlich den westdeutschen Blick. Die ostdeutsche Sicht ist häufig eine andere, kommt aber nicht vor.
Die ostdeutsche Sicht ist häufig anders, kommt aber nicht vor
Wenn man sich vor Augen hält, wieviel die Erwerbsarbeit für Ost-Frauen bedeutete und bedeutet, dann wird klar, wie stark sie der Verlust dieser Selbstverständlichkeit traf. Ich war in den 90er-Jahren Arbeitssenatorin in Berlin und habe erlebt, wie Frauen nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes gekämpft haben, sich wieder und wieder qualifiziert haben, weil ihre Berufsabschlüsse nichts mehr galten.
Und plötzlich musste auch um den Erhalt der Kinderbetreuung gekämpft werden. Und dann war ihre hohe Erwerbsneigung noch die Ursache für die hohen Arbeitslosenquoten. Diese Erfahrungen sitzen tief.
Christine Bergmann, 1939 in Dresden geboren, ist gelernte Apothekerin, war die letzte Präsidentin der Berliner Stadtverordnetenversammlung, Bürgermeisterin von Berlin, von 1991 bis 1998 Berliner Senatorin (SPD) und von 1998 bis 2002 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.