Feministische Außenpolitik?
Bis zum Eklat dauerte es nur ein paar Wochen. Am 3. Oktober 2014, dem Tag ihrer Amtseinführung, hatte die schwedische Außenministerin Margot Wallström verkündet, ihr Land verfolge von nun an eine „feministische Außenpolitik“. Die Welt staunte, konnte die Sache aber schlecht als Spleen einer übereifrigen skandinavischen Frauenpolitikerin abtun. Schließlich hatte auch der neue Ministerpräsident Stefan Lövfen seine rot-grüne Regierung zur „weltweit ersten feministischen Regierung“ erklärt. Wallström, stellvertretende Ministerpräsidentin, und ihr Chef meinten es offenbar ernst.
Wie ernst, wurde klar, als am 9. Januar 2015 der saudi-arabische Blogger und Frauenrechtler Raif Badawi zum ersten Mal öffentlich ausgepeitscht wurde. Schwedens oberste Diplomatin fand klare und undiplomatische Worte für die „mittelalterlichen Bestrafungsmethoden“ und verurteilte nicht nur den barbarischen Akt, sondern auch die Behandlung von Frauen im wahabitischen Königreich als Menschen zweiter Klasse. Das saudische Königshaus war empört. Wallström wurde von einem Treffen der Arabischen Liga in Kairo, bei der sie als Ehrengast eingeladen war, wieder ausgeladen. Ihre geplante Rede zur Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien fiel aus. Dann ließ Schweden den Worten auch noch Taten folgen.
Der Kritik an Saudi-Arabien ließ Außenministerin Wallström Taten folgen
Am 10. März 2015 beendete der feministische Ministerpräsident einen milliardenschweren Rüstungsdeal mit Saudi-Arabien. Zehn Jahre lang hatte Schweden den Saudis – drittgrößte Kunden der schwedischen Rüstungsindustrie – „Militärprodukte“ geliefert und sogar beim Aufbau einer Waffenfabrik geholfen. Damit sollte jetzt Schluss sein. König Salman tobte und zog seinen Botschafter aus Stockholm ab.
Dass man Margot Wallström mit ihrer „feministischen Außenpolitik“ ernst nahm, lag auch an ihrer Erfahrung. Die Sozialdemokratin, die schon 1988 ihr erstes Ministeramt angetreten hatte und ab 1999 elf Jahre lang EU-Kommissarin gewesen war, war von 2010 bis 2012 als „UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Kriegen und Konflikten“ im Einsatz.
Ministerin Wallström hatte erlebt, wie Vergewaltigungen von Soldaten als Kriegswaffe eingesetzt wurden – und auch, wie brutalisierte Männer aus dem Krieg zurückkehrten und zu Hause ihre eigenen Frauen misshandelten. Sie hatte gesehen, wie Frauen während des Krieges die Gesellschaft am Laufen hielten, aber dennoch nicht mit an den Verhandlungstischen saßen, wenn es darum ging, darüber zu entscheiden, wie die Gesellschaft nach Kriegsende aussehen sollte. Und sie hatte verstanden, dass das Geld, das in den Wiederaufbau floss, allzu oft nicht bei Frauen und Kindern landete.
Ziel der Feministischen Außenpolitik: gleiche Rechte, Repräsentanz und Ressourcen
Deshalb erklärte die ehemalige UN-Sonderbeauftragte und neue schwedische Außenministerin zum Ziel ihrer feministischen Außenpolitik die drei Rs: gleiche Rechte, gleiche Repräsentanz, gleicher Anspruch auf Ressourcen. Darüber, wie das umzusetzen sei, legte sie ein knapp 100-seitiges Handbuch vor. „Menschenrechte sind auch Frauenrechte“, sagte Wallström. „Dass so eine simple Feststellung immer noch viele Kontroversen auslöst, zeigt glasklar die Notwendigkeit einer feministischen Außenpolitik.“
So ähnlich klang auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, als sie am 1. März 2023, sieben Tage vor dem Internationalen Frauentag, die „Leitlinien“ ihrer „feministischen Außenpolitik“ vorstellte. „Wir verfolgen eine feministische Außenpolitik, weil es bitternötig ist“, erklärte Baerbock. „Weil Männer und Frauen weltweit noch immer nicht gleichgestellt sind. Weil Frauen, aber auch Kinder oder Ältere in Konflikten besonders verletzlich sind. Auf meinen Reisen habe ich immer wieder einen Satz gehört, von dem ich gehofft hatte, dass er längst der Vergangenheit angehört: ‚Vergewaltigung – das gehört halt zum Krieg dazu.‘ Feministische Außenpolitik bedeutet, sich dagegenzustellen, klarzumachen, dass Vergewaltigungen ein Kriegsverbrechen sind. Und dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen.“
Feministische Außenpolitik sei „kein Kampfbegriff, sondern leitet sich bei uns aus dem Grundgesetz ab. Und das ist sicher kein Gedöns. Es ist eine harte Sicherheitsfrage.“ Denn, so die Außenministerin: „Wo Frauen sicher sind, dort sind wir alle sicherer. Wir wissen, dass Friedensverträge stabiler sind, wenn sie von Frauen mitgeschrieben werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Abkommen halten, steigt um 20 Prozent, wenn Frauen eingebunden werden.“
Feministische Außenpolitik in Deutschland: Scheitert sie in der Praxis?
Das stimmt. Dennoch: Das mediale Echo auf Baerbocks Leitlinien war überwiegend skeptisch bis spöttisch. „Verdacht auf Feigenblatt“ titelte die FAZ, „Demnächst dann mit Katar“ die SZ. Und kommentierte: „Im Umgang mit Staaten wie Iran oder Saudi-Arabien wird die Sache kompliziert. Und wenn Deutschland das nächste Mal dringend auf der Suche nach Gas ist, kann man dann Katar immer noch als Geschäftspartner in Erwägung ziehen?“
Das Satire-Magazin Extra 3 verlieh Baerbock (in Anlehnung an die Oscar-Verleihung) den „OLAF für heiße Luft“. Und Die Zeit sprach von „beschämenden Daten“ im Außenministerium selbst. „Nur ein gutes Viertel der Botschaften (27,1 Prozent) und Referatsleitungen (26 Prozent) wird von Frauen geführt. Das Auswärtige Amt, sagt ein Berliner Insider, habe bei weiblichen Leitungspositionen den schlechtesten Schnitt aller Bundesministerien.“ Ist die feministische Außenpolitik also theoretisch eine gute Idee, die in Deutschland aber sehr schnell ihre Grenzen in der Praxis findet?
Die Idee der feministischen Außenpolitik ist nicht neu, sie begann schon vor über 100 Jahren. Nämlich mit der großen Frauen-Friedenskonferenz in Den Haag, zu der 1915, ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, über 1.000 Frauen aus 13 kriegführenden Staaten zusammenkamen, um dem Wahnsinn die Vernunft und dem Hass die Versöhnung entgegenzusetzen.
Die Geburtsstunde war die große Frauen-FriedensKonferenz in Den Haag 1915
Unter den deutschen Initiatorinnen des Kongresses waren Minna Cauer, Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg. Die großen radikalen Frauenrechtlerinnen in Deutschland gehörten zu den wenigen, die es inmitten der allgemeinen Kriegsbesoffenheit wagten, ihre Stimme gegen den Krieg zu erheben. Sie wurden dafür – auch vom gemäßigten „Bund deutscher Frauenvereine“ um Gertrud Bäumer und Helene Lange – als „unpatriotisch“ diffamiert, ließen sich jedoch nicht einschüchtern. Die Geschichte sollte ihnen recht geben.
Die 20 Forderungen, die der Den Haager Frauen-Friedenskongress am 1. Mai 1915 verabschiedete, lesen sich wie die Blaupause für die UN-Resolution „Frauen, Frieden und Sicherheit“, die die Vereinten Nationen 85 Jahre später beschlossen. Die Frauenrechtlerinnen erklärten 1915 in Den Haag: „Wir protestieren aufs Entschiedenste gegen das furchtbare Unrecht, dem Frauen in Kriegszeiten ausgesetzt sind, und besonders gegen die entsetzlichen Vergewaltigungen von Frauen, welche Begleiterscheinungen jedes Krieges sind.“
Den Feministinnen, die anno 1915 noch für das Frauenwahlrecht kämpften, war auch klar, dass die gleichberechtigte Beteiligung der Frauen am Friedensschluss und für den Erhalt des Friedens zwingend notwendig wäre. Sie kündigten die „Abhaltung eines Internationalen Frauenkongresses“ an, „am selben Ort und in derselben Zeit, wenn die Konferenz der Mächte zur Feststellung der Friedensbedingungen tagt, um dieser praktische Vorschläge zu unterbreiten“.
Feministinnen forderten die Beteiligung der Frauen an Friedens-Prozessen
Die selbstbewussten Frauen erklärten, dass „der zusammenwirkende Einfluss der Frauen aller Länder einer der stärksten Faktoren zur Vermeidung des Krieges ist, und da Frauen nur dann wirksamen Einfluss ausüben können, wenn sie gleiche Rechte wie die Männer haben, fordern wir die volle politische Gleichberechtigung der Frauen.“ Die Pazifistinnen verlangten, dass die Außenpolitik demokratischer Kontrolle unterstellt werde. „Wir erkennen als demokratisch nur ein System an, welches die gleiche Vertretung von Männern und Frauen umfasst.“ (1915)
Da waren sie also schon damals, die drei Rs: Rechte, Repräsentanz, Ressourcen. Plus der Blick auf eines der schrecklichsten Kriegsverbrechen, das allerdings damals noch nicht als solches galt: die Vergewaltigung. Doch wird es nach der Deklaration der Frauenrechtlerinnen in Den Haag noch fast ein Jahrhundert dauern, bis die Vereinten Nationen sexuelle Gewalt im Krieg endlich offiziell als „Kriegsverbrechen“ verurteilen und ein Ende der Straflosigkeit für die Täter fordern. Und das nicht nur, weil die Folgen für die Opfer selbst katastrophal sind, sondern auch, weil Vergewaltigung als „Kriegstaktik“ verheerende Auswirkungen für die gesamte Gesellschaft hat.
Die UN erklärten 2008: Die sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen habe „das Ziel, die zivilen Mitglieder einer Gemeinschaft oder ethnischen Gruppe zu erniedrigen, Macht über sie auszuüben, ihnen Furcht einzuflößen, sie zu zerstreuen und/oder zwangsweise umzusiedeln“, so heißt es in der UN-Resolution mit der Nummer 1820, die am 19. Juni 2008 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet wurde und völkerrechtlich bindend ist. Gedrängt von Feministinnen, forderten die Vereinten Nationen darin, dass „alle sexuellen Gewalthandlungen gegen Zivilpersonen umgehend und mit sofortiger Wirkung eingestellt werden“. Ein frommer Wunsch, wie wir wissen, denn im Krieg zählen keine Resolutionen, sondern nur Macht und Ohnmacht.
2008 verabschiedet: die UN-Resolution 1820 gegen Sexuelle Gewalt im Krieg
Und dennoch: Mit dieser von Frauen erkämpften UN-Resolution 1820 sind Kriegsvergewaltigungen vom Kollateralschaden zur, wie es in der Resolution heißt, „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ geworden. Bis dahin war es ein langer Weg.
Bei den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vergewaltigungen, die die Soldaten der Wehrmacht bei ihren Feldzügen begangen hatten, nicht Teil der Anklagen gegen die deutschen Kriegsverbrecher. Dabei musste es sie massenhaft gegeben haben, vor allem in Osteuropa. Natürlich hatten deutsche Soldaten auch an der Westfront vergewaltigt, aber solche Taten waren an Französinnen oder Belgierinnen immerhin offiziell verboten. Nicht wegen des Leids der Opfer, sondern weil sie „das Ansehen der Wehrmacht schädigten“. Einige wenige Täter wurden tatsächlich vor Gericht gestellt und verurteilt.
Doch als 1941 beim „Unternehmen Barbarossa“ drei Millionen Wehrmachts-Soldaten zum „größten und zerstörerischsten militärischen Feldzug der Geschichte“ gen Osten aufbrachen und die Sowjetunion überfielen, gab die deutsche Heeresführung die offizielle Devise aus, für die „slawischen Untermenschen“ gelte das Kriegsrecht nicht und „Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung“ würden „nicht geahndet“. Ein Freibrief für die Eroberer, Kriegsverbrechen aller Arten zu begehen, auch Vergewaltigungen.
Als dann die Soldaten der Roten Armee 1945 nach Deutschland vorrückten, vergewaltigten auch sie – und zwar auch auf Befehl. Nun wurden die deutschen Frauen zur „Kriegsbeute“, wie in jedem Krieg, in dem der „Feind“ die Heimatfront überrennt. Doch auch über die Massenvergewaltigungen, die die russischen Soldaten vor allem in Berlin begingen, wurde geschwiegen, zumindest offiziell. Denn die Sowjetunion war Opfer von Nazi-Deutschland geworden – und da hatten die Frauen der Täter nicht das Recht, sich zu beklagen. Außerdem, auch das bis heute üblich, lag die „Schande“ nicht beim Täter, sondern beim Opfer.
Durch die Frauenbewegung wurde der Mantel des Schweigens weggerissen
Es brauchte die Frauenbewegung, um das Tabu zu brechen und den Mantel des Schweigens wegzureißen. Die erste, die Ausmaß, Funktion und Folgen von Vergewaltigung auch in Kriegen benannte, war die Amerikanerin Susan Brownmiller. In ihrem epochalen Werk „Gegen unseren Willen“, das 1975 erschien, erklärt sie: „Männer, die im Krieg vergewaltigen, sind ganz normale Alltagstypen, die ihre Normalität verlieren, sobald sie in den exklusivsten Männerclub der Welt eintreten. Der Krieg liefert Männern den perfekten psychologischen Freibrief, um ihrer Verachtung gegen Frauen freien Lauf zu lassen.“ Brownmiller analysiert den Kern: Nämlich, dass es auch bei der Vergewaltigung der Frauen in Wahrheit um eine Sache zwischen Männern geht: „Der Körper der geschändeten Frau wird zum zeremoniellen Schlachtfeld, zum Platz für die Siegesparade des Überlegenen. Und die Tat, die an der Frau verübt wird, ist eine Botschaft unter Männern – deutlicher Siegesbeweis für den einen, Dokument der Niederlage für den anderen.“
Geächtet wird folgerichtig das Opfer, dessen Körper zum Austragungsort der Männerfehde wird. „Im Krieg wie im Frieden bürden die Ehemänner ihren Frauen den größten Teil der Schuld an dem schrecklichen Ereignis auf. Die geheiligten Besitzrechte sind verletzt worden und das Besitzstück selber trägt die Schuld daran.“ Die amerikanische Jüdin Brownmiller ist tatsächlich die Erste, die auch von den jahrzehntelang verschwiegenen massenhaften, systematischen und angeordneten Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten spricht. EMMA veröffentlicht in ihrem Gründungsjahr 1977 einen Auszug aus Brownmillers Buch. Die sexuelle Gewalt – im Ehebett wie im Krieg – wird zu einem zentralen Thema der frühen Frauenbewegung.
Zentrales Thema der Frauenbewegung: die Sexuelle Gewalt - im Ehebett wie im Krieg
1989 veröffentlicht EMMA einen Artikel über die Forschungsarbeit der Tübinger Studentin Ute Bechdolf. Sie hatte im Rahmen des Projekts „Heimatkunde des Nationalsozialismus“ einen Aufruf in der Lokalzeitung geschaltet und Frauen aufgefordert, über ihre Erfahrungen beim Einmarsch der französischen Truppen zu sprechen. Einige Frauen meldeten sich. „Für manche war es das erste Mal. Alte Ängste wurden wieder wach, schlimme Träume kehrten zurück. Doch die meisten Anruferinnen waren trotzdem erleichtert, endlich einmal offen darüber sprechen zu können“, schrieb Bechdolf. „Das Schlimmste beim Einmarsch waren die Schreie der Frauen“, erinnerte sich Frau W.. Und Frau R. „berichtet, dass ein Freund sie beim Einmarsch noch vor den fremden Truppen gewarnt habe: ‚Wehe euch Mädchen und Frauen, wenn es euch so geht, wie’s wir in Russland gemacht haben!‘“ Reaktion: Viele Leserbriefe, darunter wüste Beschimpfungen der Autorin als „linke, vaterlandslose Amateur-Nutte“.
Im Jahr 1992 wagt die Filmemacherin Helke Sander, das Tabu im Tabu auf die Leinwand zu bringen. „BeFreier und Befreite“ hieß der Dokumentarfilm über die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Soldaten der Roten Armee. Mindestens 100.000 Frauen waren allein in Berlin Opfer geworden, einmal oder vielfach, errechnete Helke Sander auf der Basis von Krankenakten aus der Charité.
„Wenn Sie sich nicht verstecken konnten, war es gar nicht zu vermeiden“, erzählten Frauen der Filmemacherin, die nicht nur Opfer, sondern auch Täter befragt hatte. Ihr bahnbrechender Film wurde nach der Premiere auf der Berlinale 1992 angefeindet – und zwar von links. „Revisionistisch“ sei Sanders Film, er klänge teilweise wie von der „antibolschewistischen Propaganda-Abteilung“ ersonnen.
Die Frauen in Bosnien brachen noch während des Krieges ihr Schweigen
Dennoch trug auch „BeFreier und Befreite“ dazu bei, dass das Thema Kriegsvergewaltigungen präsent wurde und deutsche Frauen, deren Schmerz unter Trümmern und dem Wirtschaftswunder begraben worden war, allmählich anfingen zu sprechen. Bis dahin hatte es fast ein halbes Jahrhundert gedauert.
Die Frauen in Bosnien sprachen sofort. Noch während des Krieges auf dem Balkan, der 1992 ausgebrochen war, berichten sie von den Massenvergewaltigungen während der Kämpfe oder in Lagern. Zwanzig Jahre nach dem Aufbruch der Neuen Frauenbewegung ist die Zeit jetzt reif dafür, den Opfern zuzuhören.
Die Medien berichten, manche reißerisch, andere einfühlsam. Alice Schwarzer macht in ihrer Talkshow „Zeil um zehn“ 1992 eine ganze Sendung zum Thema Kriegsvergewaltigungen und lädt dazu die kroatische Schriftstellerin und Feministin Slavenka Drakulić ein.
Die Gynäkologin Monika Hauser gründet 1993 im bosnischen Zenica ein Zentrum für kriegsvergewaltigte Frauen und später die Organisation Medica Mondiale, die nicht nur vergewaltigte Frauen in (Nach)Kriegsgebieten in aller Welt medizinisch und therapeutisch versorgt, sondern auch gegen die Stigmatisierung der Opfer und für bessere Gesetze kämpft. Hauser wird in Deutschland zur Botschafterin gegen Kriegsvergewaltigungen, und zwar auch solche durch UN-Blauhelme, deren Jeeps sie vor den örtlichen Bordellen in Pristina oder Freetown parken sieht.
Das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag, das die Verbrechen des Jugoslawien-Kriegs ahnden soll, wird zu einem Meilenstein. Unter dem Druck feministischer Juristinnen werden nun auch die Vergewaltigungen angeklagt, im sogenannten Foca-Prozess werden drei serbische Militärkommandanten sogar ausschließlich wegen sexueller Gewalttaten vor Gericht gestellt. Der Hauptangeklagte, der Frauen und Mädchen wochenlang eingesperrt und seinen Leuten „zur Verfügung gestellt“ hatte, wird im Jahr 2001 wegen „sexueller Versklavung“ zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt. „Wir wollen Vergewaltigung ins Völkerstrafrecht einschreiben“, erklärt Chefankläger Richard Goldstone.
Der Krieg geht für viele Frauen auch nach Friedensschluss weiter
Im selben Jahr schickt die UN-Frauenorganisation UNIFEM ein Expertinnen-Team in die Nachkriegsgebiete dieser Welt, von Kosovo bis Kambodscha. Die ehemalige finnische Verteidigungsministerin Elisabeth Rehn und die spätere Präsidentin von Liberia und Friedensnobelpreisträgerin, Ellen Johnson Sirleaf, kehrten mit der tristen Erkenntnis zurück: Der Krieg geht für viele Frauen auch nach Friedensschluss weiter: zu Hause, mit den eigenen traumatisierten und brutalisierten Männern und Söhnen. Rehn und Sirleaf prangerten den Anstieg von Prostitution und Frauenhandel nach Kriegen an. Käufer der Frauen im Nachkriegs-Frieden: UN-Blauhelme auf „Friedensmission“ und „humanitäre Helfer“.
Und sie stellten fest, dass die Frauen, die so sehr unter dem Krieg gelitten hatten, bei den Friedensverhandlungen immer noch keine Stimme hatten. So hatte zum Beispiel auch bei den Friedensverhandlungen zum Bosnienkrieg keine einzige Frau mit am Tisch gesessen. Ihr Bericht „Women, War and Peace“ wurde 2002 veröffentlicht.
Schon zwei Jahre zuvor war bei den UN einiges in Bewegung geraten: Am 31. Oktober 2000 hatten die Vereinten Nationen die bereits erwähnte UN-Resolution mit der Nummer 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ verabschiedet. Zum ersten Mal hatte sich der UN-Sicherheitsrat ausschließlich mit der Lage von Frauen und Mädchen im Krieg und in Nachkriegsgesellschaften befasst.
Zu oft folgten den Worten von UN-Resolutionen einfach keine Taten
85 Jahre nach der Den Haager Friedenskonferenz der Frauen prangerten nun die Vereinten Nationen die sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Krieg an. Sie machten deutlich, „welche wichtige Rolle Frauen bei der Verhütung und Beilegung von Konflikten und bei der Friedenskonsolidierung zukommt“ und betonten, „wie wichtig es ist, dass sie an allen Anstrengungen zur Wahrung und Förderung von Frieden und Sicherheit gleichberechtigt und in vollem Umfang teilhaben“. Das soll nicht nur für die Frauen der betroffenen Kriegsnationen gelten, sondern auch für die Friedensmissionen selbst, die mehr Frauen einsetzen sollten. Es solle dafür gesorgt werden, dass die „besonderen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen“ beim „Wiederaufbau nach Konflikten“ berücksichtigt werden.
Damit legten die Vereinten Nationen eine Art Grundstein für die Idee der feministischen Außenpolitik. Das Problem: Die gerechte Theorie scheiterte weitgehend an der ungerechten Praxis. Zum zehnten Jahrestag der Resolution 1325 im Herbst 2010 fiel die Bilanz ernüchternd aus.
Zu oft, beklagten NGOs, folgten den Worten der Resolution einfach keine Taten. Auch der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon bedauerte in seiner Jubiläums-Rede, dass „die Erfolge der letzten zehn Jahre nicht den eigenen Erwartungen entsprochen“ hätten.
Zehn Jahre später hatte sich an dieser deprimierenden Feststellung quasi nichts geändert. Im Herbst 2020 beklagten 558 NGOs aus 102 Ländern in einem Offenen Brief an den UN-Sicherheitsrat: „Vor 20 Jahren haben die Architekten der Resolution 1325 Geschichte geschrieben.“ Doch: „Obwohl es einige Fortschritte gegeben hat, sind die Worte für die 264 Millionen Frauen und Mädchen, die weltweit in Konflikten leben, eher Rhetorik als gelebte Realität geblieben.“
Wie weit geht die "feministische Außenpolitik" von Ministerin Baerbock?
Just diese Kritik brandet nun auch Annalena Baerbock entgegen. Sicher, so manches Beispiel, das die Außenministerin in ihrer 89-seitigen arg bürokratischen und streng gegenderten Leitlinien-Broschüre anführt, klingt sinnvoll und praxisnah. Wie zum Beispiel die finanzielle Förderung des „African Women Leaders Network“ oder das Projekt „Menstruationshygiene für geflüchtete Frauen“ in Bangladesch.
Bei anderen Projekten hingegen stellen sich Fragen. Was zum Beispiel will es uns sagen, dass sich das Außenministerium bei der 27. Klimakonferenz in Scharm el-Scheich im November 2022 „weiter für den Gender Action Plan von UNFCCC und seine Umsetzung stark gemacht“ und beim Klimasekretariat der Vereinten Nationen einen „National Gender and Climate Change Focal Point eingerichtet“ hat?
Was könnte gemeint sein, wenn das Auswärtige Amt erklärt: „Auf europäischer Ebene setzen wir uns für eine stärkere Verankerung der WPS-Agenda in Missionen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und für ihre Berücksichtigung auch in militärischen Ertüchtigungsmaßnahmen im Rahmen der European Peace Facility ein.“ Und: Nützt es den Frauen und Kindern in Flüchtlingslagern der Sahelzone tatsächlich, wenn dort im Rahmen des Projekts „Genderresponsive Energie- und Klimaprojekte“ Dieselgeneratoren durch Solaranlagen ersetzt werden?
Die große Frage scheint jedoch eine andere. Hat die Außenministerin in ihrer bisherigen Amtszeit nicht immer dann, wenn vermeintlich größere, wichtigere Ziele zu erreichen waren, die Frauenrechte de facto als Marginalie beiseitegeschoben?
Frauenrechte als Marginalie beseite geschobene für vermeintliche wichtigeres?
Stichwort Iran. Bei dem todesmutigen Aufstand der iranischen Frauen – und solidarischen Männer – nach dem gewaltsamen Tod von Jina Masah Amini im September 2022 blieb Außenministerin Baerbock bemerkenswert lange still. Insider berichten, im Auswärtigen Amt habe man an einer Destabilisierung des Mullah-Regimes kein ernsthaftes Interesse, um den sogenannten Atomdeal nicht zu gefährden. (Ein Deal, der ohnehin absurd ist. Als würde der Gottesstaat jemals freiwillig auf eine erreichbare Atommacht verzichten.) Hinzu kommt: Die deutsche Industrie macht mit dem Iran Bombengeschäfte.
Sie sei „schockiert, dass die deutsche Außenministerin nun mit einer feministischen Außenpolitik ankommt, wo sie so lange gebraucht hat, um die feministische Revolution in Iran überhaupt nur wahrzunehmen“, erklärte Masih Alinejad in einem FAZ-Interview. Die iranische Frauenrechtlerin, die aus dem US-Exil die Kampagne „My Stealthy Freedom“ gegen die Zwangsverschleierung ihrer Geschlechtsgenossinnen gestartet hatte, fordert: „Wenn Baerbock eine echte Feministin ist, dann sollte sie Menschenrechte nicht unter Geschäftsinteressen begraben.“
Stichwort Katar. Hatte Ministerin Baerbock zunächst noch gefordert, Deutschland solle wegen der desolaten Menschenrechtslage in dem islamischen Land die Fußball-WM boykottieren, sah die Sache gleich ganz anders aus, als in Deutschland im Ukraine-Krieg das Gas knapp wurde. Die tiefe Verbeugung von Kollege Habeck vor Scheich Mohammed bin Hamad ist Legende. Als Habeck nach seiner Reise vom Spiegel gefragt wurde, wie sehr ihn solche „krummen Kompromisse schmerzen“, antwortete der Minister: Er habe „Katar nicht als schmerzvolle Reise empfunden. Wir haben doch von jeher Erdöl und Erdgas in Ländern gekauft, die einer anderen Werteordnung unterliegen.“ Na dann.
Wo bleibt die unbürokratische Aufnahme von Frauen aus Afghanistan?
Stichwort Afghanistan. In keinem Land der Welt dürften Frauen in einer so verzweifelten Lage sein wie dort. Doch während ukrainische Frauen und Kinder – zu recht! – unbürokratisch nach Deutschland kommen können und Zugang zu Sozialleistungen haben, brauchte das Außenministerium über ein Jahr, um ein Aufnahmeprogramm für Afghanistan auf den Weg zu bringen. Und immer noch sitzen afghanische Lehrerinnen, Journalistinnen, Ärztinnen in Kellern fest.
„Absolut verzweifelt“ seien die Frauen, mit denen sie in Kontakt stehe, klagte die afghanische Journalistin Shikiba Babori auf der von der Alice-Schwarzer-Stiftung initiierten Afghanistan-Konferenz im September 2022 in Berlin. „Sie stehen auf der Ausreise-Liste, hören aber überhaupt nichts.“ Doch auch wenn die Afghaninnen es außer Landes schaffen, bleibt ihre Lage dramatisch. „Einige gejagte Frauen sind nach Pakistan gezogen, dorthin, wo es eine deutsche Botschaft gibt“, berichtet die Kriegsreporterin Antonia Rados. „Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihnen zu sagen, was mir ein deutscher Beamter im Außenamt mitteilte: Jede muss den Dienstweg einhalten. Jede muss um einen Termin bei einer privaten Servicefirma in Pakistan ersuchen, dort Dokumente vorlegen, beweisen, wie bedroht sie sei. Danach würde die deutsche Botschaft die Akte bearbeiten. Erfahrungsgemäß würde das ein Jahr dauern.“ Nicht nur Rados fragt sich: „Worauf wartet Baerbock in Afghanistan noch? Warum verteilt sie nicht unbürokratisch Visa, damit bedrohte Frauen zumindest vorübergehend in Sicherheit gebracht werden?“
Und schließlich: Stichwort Krieg. Nicht nur Antje Vollmer hatte sich darüber gewundert, dass ausgerechnet ihre jüngere grüne Parteikollegin „die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie“ ist. Selbst der in der Regel regierungskonforme Deutsche Frauenrat, der an den Leitlinien zur feministischen Außenpolitik mitgewirkt hat, hält offenbar wenig vom Kriegskurs der Ministerin, der Selbstzweifel eher fremd zu sein scheinen. „Aus feministischer Perspektive ist klar, dass Aufrüstung und Militarisierung unserer Außenpolitik nicht die Antwort auf diesen Krieg sein dürfen“, erklärt Anja Nordmann, Geschäftsführerin des Frauenrats. „Diplomatie muss grundsätzlich das erste Mittel sein, um Konflikte zu deeskalieren.“
Zwischen feministischer Theorie und realpolitischer Praxis klafft eine Lücke
Dass zwischen feministischer Theorie und realpolitischer Praxis eine Riesenlücke klafft, ist auch den „Verfasser*innen“ der Leitlinien durchaus bewusst. Erstaunlich offenherzig erklären sie, dass Frauenrechte im Zweifel eben den Kürzeren ziehen. „Feministische Außenpolitik, wie wir sie begreifen, setzt sowohl auf Prinzipienfestigkeit als auch auf Pragmatismus“, schreiben sie auf Seite 7 der Leitlinien. „Sie stellt sich der Verantwortung, abzuwägen und im größeren Kontext unserer Außen- und Sicherheitspolitik zu entscheiden.“ Das klingt verdächtig nach dem altbekannten und gänzlich unfeministischen „Nebenwiderspruch“. Der firmiert bekanntlich nach dem „Hauptwiderspruch“ (Gaslieferungen, Atomabkommen, Krieg …) unter ferner liefen.
Der „Verantwortung“ des Abwägens stellte sich irgendwann übrigens auch Schweden. Als im Februar 2017 eine zwölfköpfige Delegation unter Leitung von Handelsministerin Ann Linde in den Iran flog, trugen die Frauen ein Kopftuch. Seit 2020 liefert Schweden wieder Waffen nach Saudi-Arabien. Im Oktober 2022 erklärte der neue, konservative Außenminister Thomas Billström konsequenterweise, man werde den Begriff „feministische Außenpolitik“ ab jetzt nicht mehr verwenden. Dafür trat ein weiteres Land der Gruppe der Länder bei, die sich die feministische Außenpolitik auf die Fahnen geschrieben haben: Libyen.
Und Deutschland? Wie feministisch ist nun die Außenpolitik der grünen Außenministerin Annalena Baerbock? Die Antwort lautet: Überhaupt nicht. Neben ein paar schönen Worten stehen null Taten. Im Gegenteil: Baerbock ist die kriegerischste aller grünen Bellizisten an der Macht. Sie sagt Sätze wie „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland!“ (und muss dann zurückgepfiffen werden) und fordert ohne Unterlass noch schärfere Waffen für die Ukraine.
Die Urmütter der feministischen Außenpolitik wären entsetzt, wenn sie sehen würden, was aus ihrer Hoffnung auf die Friedfertigkeit der Frauen geworden ist.
Das ist eben doch keine Frage des biologischen Geschlechts, sondern eine Frage der Macht. Und die haben jetzt auch Frauen.
CHANTAL LOUIS