Alice Schwarzer schreibt

Weiberzank - oder Polit-Kontroverse?

Alice Schwarzer und Judith Butler (Fotos: Bettina Flitner, University of California/Berkely)
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Der Beitrag in der Juli/August-­EMMA, um den es geht, ist vom ehemaligen Gender-Studenten Vojin Saša Vukadinović verfasst und basiert auf der Textsammlung Beißreflexe. Darin kritisieren Queer-Aktivisten ihre eigene Szene. Bereits als das Buch erschien, gab es heftige Kontroversen, wurde den Autoren Gewalt, ja „Waffengewalt“ angedroht. Nun, nachdem EMMA der Debatte Raum gegeben hat, reagierten Judith Butler und Sabine Hark persönlich und antworteten in der Zeit. Und sie reagierten heftig.

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Die Chefdenkerin der Queer-Theorie, Judith Butler, unterstellt EMMA nicht nur undifferenziertes Denken und „Hass­reden“, sondern sogar Rassismus. Ein Argument, das uns definitiv ins Unrecht setzen soll. Bezeichnend auch, dass es in dem Text vor allem um die Form und kaum um Inhalte geht. Und das wohl nicht zufällig in einer schwer zugäng­lichen, selbstreferenziellen Sprache, die nicht auf Kommunikation oder gar Verständnis angelegt ist. Der Linguistin Butler müsste das bewusst sein.

Es geht um zwei Sichten auf die Welt, um gegensätzliche politische Konzepte.

Doch der Reihe nach. Worum geht es eigentlich wirklich? Es geht um zwei Sichten auf die Welt, um gegensätzliche politische Konzepte. Das verdeutlicht sich an drei Themen: den Geschlechtern, den Juden und den Muslimen. Immer ist da eine Kluft: eine Kluft zwischen (hehrer) Theorie beziehungsweise Ideologie und (niederer) Wirklichkeit.

Ich kann nicht voraussetzen, dass alle Zeit-Leser mit den Gender-Theorien vertraut sind, denn die sind außerhalb des akademischen Milieus entweder unbekannt oder zur Karikatur verzerrt. Ersteres liegt auch daran, dass die Gender-Theorien sich einer lebensabgewandten, elitären Sprache bedienen – die Kritik an der Herrschaftssprache aus den sechziger Jahren scheint vergessen. Letzteres liegt da­ran, dass sie an den Grundfesten der ­Geschlechterordnung rütteln. Wir Feministinnen kennen das. Wir tun das ja schon länger.

Hier also in groben Zügen die Posi­tionen. Der 1990 erschienene Essay „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Butler löste den Wechsel von der Frauen- oder Geschlechterforschung zur „Gender-Forschung“ aus. Dabei handelte es sich nicht wirklich um einen Paradigmenwechsel, eher um neue Begrifflichkeiten für das alte Problem. Das (biologische) Geschlecht und die (soziale) Geschlechterrolle hießen nun sex and gender, Begriffe aus der amerikanischen Sexualforschung. Für Butler ist nicht nur Gender relativ, sondern auch Sex; also nicht nur die Geschlechterrolle, sondern auch das Geschlecht selbst. Was konsequent ist. Denn in dem Moment, wo die Geschlechterrolle nicht mehr zwingend an ein biologisches Geschlecht gebunden ist, verliert es seine Bedeutung.

Butler ist beileibe nicht die Erste, die so argumentiert, handelt es sich bei der Infragestellung des „kleinen Unterschiedes“ doch um den Kern des feministischen Denkens. So schrieb Simone de Beauvoir schon 1949 in „Das andere Geschlecht“ den Jahrhundertsatz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Will sagen: Geschlecht ist nicht biologisch, sondern kulturell, ist Prägung; konstruiert, wie es heute heißt – kann also auch dekonstruiert werden. Könnte.

Einfach Mensch sein. Die feministische Utopie an sich. Doch die Verhältnisse, die sind nicht so.

Und genau an dieser Stelle fängt das Problem mit Butler und ihrer Anhängerschaft an. Sie halten ihre radikalen Gedankenspiele für Realität. Sie suggerieren, jeder Mensch könnte hier und jetzt sein, wonach ihm gerade zumute ist. Und er, der Mensch, müsse auch keinesfalls wählen zwischen zwei Geschlechtern, schließlich gäbe es viele Spielarten und Facetten der Geschlechteridentität. Einfach queer sein!

Was für ein schöner Gedanke. Einfach Mensch sein. Das wär’s doch. Die feministische Utopie an sich.

Doch die Verhältnisse, die sind nicht so. Leider sind wir in der bunten Welt der Queerness noch nicht angekommen. Noch sind Menschen in den Augen der anderen – meist auch in ihren eigenen – Frauen oder Männer (und nur selten, wenn auch zunehmend, dazwischen). Oder weiß, schwarz etc. Doch so all­gegenwärtig in der Queerszene die Sensibilität für Rassismus ist, so abwesend ist der Sexismus, das Wissen um das Machtverhältnis der Geschlechter. Ja selbst das Wort „Frau“ ist abgeschafft oder nur noch mit einem angehängten * zulässig. Will sagen: Frau soll jeder Mensch, der sich situativ als Frau versteht, sein können – unabhängig von Sozialisation und Biologie.

In der Realität jedoch sind die weib­lichen Menschen in unserer Kultur weiterhin die Anderen, es gilt für sie ein anderes Maß als für Männer. Entsprechend sind sie zum Beispiel in erster Linie zuständig für Einfühlsamkeit und Fürsorge, Kinder und Haushalt, sie verdienen weniger und können selbst in Liebesbeziehungen Opfer von (sexueller) Gewalt werden. In anderen Kulturen – wie in islamischen, in denen die Scharia Gesetz ist – geht es noch viel ärger zu. Da sind Frauen vollends relative Wesen, sind rechtlose Mündel von Vater, Bruder oder Ehemann, werden in den fundamentalistisch-islamischen Ländern unter das Kopftuch oder den Ganzkörperschleier gezwungen und aus dem öffentlichen Raum verbannt. Sie riskieren schon beim kleinsten Ausbruch aus der Frauenrolle ihr Leben.

Millionen zwangsverschleierter Frauen werden eine solche Rechtfertigung der Burka als Hohn empfinden.

Diese Verhältnisse werden von Butler im Namen einer „Andersheit der Anderen“ gerechtfertigt. So erklärte die in Berkeley lebende und lehrende Butler 2003 in einem Interview zum Beispiel zur Burka: „Sie symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und ihrer Familie verbunden; aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist.“ Und weiter im O-Ton: „Die Burka zu verlieren bedeutet mithin auch, einen gewissen Verlust dieser Verwandtschaftsbande zu erleiden, den man nicht unterstützen sollte. Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen.“

Das geriert sich einfühlsam und edel, ist aber lebensfern und zynisch. Die algerische Politikerin Khalida Toumi (ehemals Messaoudi) nennt diese Art von Kulturrelativismus die „Kulturfalle“: zweierlei Maß in Sachen Menschen-/Frauen-Rechte im Namen einer kulturellen Differenz.

Vor allem aber: Millionen zwangsverschleierte Frauen in der islamischen Welt, die davon träumen, die Welt und den Himmel sehen zu dürfen, werden eine solche Rechtfertigung der Burka durch eine amerikanische Intellektuelle als reinen Hohn empfinden. Verstärkt vor dem Hintergrund, dass Judith Butler selbst sich die – von der Frauen- und Homo-­Bewegung erkämpfte! – Freiheit nimmt, mit einer Frau verheiratet zu sein. Für ihre „Andersheit“ würde Butler in diesen von ihr so generös verteidigten anderen Kulturen mindestens geächtet, im schlimmsten Fall getötet werden.

Die Akzeptanz des „Anderen“ muss also da ihre Grenzen haben, wo es um elementarste Menschenrechte geht. Und diese Menschenrechte sind weder okzidental noch orientalisch, sie sind human und universell. (Auch wenn der Begriff Menschenrechte seit einigen Jahren politisch missbraucht wird für ganz andere Interessen, wie bei den hegemonialen ­Interventionen. Aber das ist wieder ein anderes Thema.)

In ihrem Zeit-Text räsonieren ausgerechnet Judith Butler und Sabine Hark (Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin), sie wollten „zurückhaltender und bedachter mit apodiktisch daherkommenden Verallgemeinerungen“ umgehen und „Begrifflichkeiten wählen, die Ambivalenzen auszudrücken erlauben. Die totalisierende und versämtlichende Sichtweisen zurückweist.“ Kurzum, sie wollten, „die Welt teilen, ohne die Andersheit der Anderen auszulöschen“.

Wer will schon Andere „auslöschen“? Die EMMA! Ist das ein Missverständnis? Nein, es hat Methode. Denn Kritikerinnen, denen man unterstellt, sie seien Rassistinnen niederer Machart, die den eigenen ­hohen Gedanken kaum folgen können, solche Kritikerinnen brauchen den Mund gar nicht mehr erst aufzumachen. Sie sind schon von vorneherein erledigt.

Die Akzeptanz des „Anderen“ muss ihre Grenzen haben, wo es um elementarste Menschenrechte geht.

Der Ton von Butler und Hark verschärft sich beim Thema Islam. Die Politisierung des Islams mit all ihren Folgen – von der rigiden Geschlechtertrennung bis hin zum blutigen Terror – wird seit Jahrzehnten von aufgeklärten Muslimen ebenso bekämpft wie von universell denkenden Westlern, aber das ignorieren diese selbst ernannten „Anti-Rassistinnen“ geflissentlich. Bei ihrer Kritik an der „Kritik am Islam“ (was bedacht heißen müsste: Islamismus) fällt ihnen nur drohende „Verwestlichung“ und „Freiwilligkeit“ der Kopftuch- und Burka-Trägerinnen ein. Haben die erklärten Anti-­Rassistinnen da eigentlich keine Angst vor dem sonst so gerne beschworenen „Beifall von der falschen Seite“, nämlich der Islamisten?

Da ist es nur folgerichtig, dass Butler 2010 auch den „Zivilcourage-Preis“ des Berliner CSD abgelehnt hat. Argument: Die Verantwortlichen des CSD seien „Rassisten“. Warum? Weil einige von ihnen gewagt hatten, die Schwulenfeindlichkeit in der arabischen und türkischen Community zu thematisieren. Dazu von der taz befragt, antwortete Butler 2010: Man solle sich lieber um die homophoben Attacken der Neonazis kümmern. „Was ist mit dem Zusammenhang von Homophobie und rechtsextremen Bewegungen?“, fragt sie vorwurfsvoll. Nun, einmal abgesehen davon, dass auch Islamisten Rechtsextreme sind, ist es doch erstaunlich, dass eine Wissenschaftlerin aus Berkeley, die auch mal in Heidelberg studiert hat, noch nicht einmal zu ahnen scheint, dass genau zu dieser Frage in Deutschland und Europa seit einem halben Jahrhundert geforscht wird. Denn in der Tat: Der männerbündische Faschismus ist, ganz wie der Islamismus, auch – nicht nur, aber eben auch – eine gesteigerte Form des Männlichkeitswahns.

Doch dererlei Defizite konnten den Ruf der Berufs-Denkerin nicht schmälern. Im Jahr 2012 erhielt Judith Butler den Adorno-Preis. Dagegen protestierte unter anderem die Jüdische Gemeinde. Butler sei eine Antisemitin, weil sie mit der Hisbollah und der Hamas sympathisiere und Israel das Existenzrecht abspreche. In der Tat, bei Butlers – im Prinzip durchaus legitimer – Kritik an Israel ist sie wieder deutlich: die Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit. Doch Butler stellt sich nicht der Sache, sondern moralisiert über die Form. Selber Jüdin, protestiert sie gegen den Vorwurf des „Selbsthasses“ und schrieb in der Zeit: „Meine tatsächliche Position wird von meinen Verleumdern nicht gehört. Und vielleicht sollte mich das nicht überraschen, insofern ihre Taktik darin besteht, die Bedingungen der Hörbarkeit selbst zu zerstören.“

Die Bedingungen der Hörbarkeit selbst zerstören. Ein kluger Satz. Muss ich mir merken. Denn darin kenne ich mich schließlich schon seit 40 Jahren aus, als Zielscheibe dieser Methode. Nun wird sie also von Butler und Hark auch gegen EMMA angewandt.

Hier wird also wieder einmal der Rassismus
gegen den Sexismus ausgespielt.

So behaupten die Amerikanerin und die Berlinerin in ihrem Zeit-Text apropos EMMAs Berichterstattung über die Silvesternacht in Köln allen Ernstes: „EMMA scheint vorzuschlagen, wir sollten uns in der Verurteilung nicht-west­licher muslimischer Migranten enga­gieren, da die Sorge um die Zunahme von Rassismus vom eigentlichen Geschehen – sexualisierter Gewalt gegen Frauen – ablenke.“

Hier wird also wieder einmal der Rassismus gegen den Sexismus ausgespielt. Richtig: Für uns als feministische Zeitschrift hat der Kampf gegen den Sexismus Priorität –, aber ist gleichzeitig der Kampf gegen den Rassismus für Feministinnen immer schon eine Selbstverständlichkeit gewesen. So haben die amerikanischen Suffragetten im 19. Jahrhundert sich zunächst für gleiche Rechte für die Schwarzen eingesetzt – bis sie ­erkannten, dass auch für sie, die Frauen, noch ein gewisser Handlungsbedarf ­besteht.

Und weiter schreiben Butler und Hark: „Welchen Feminismus auch immer EMMA vor Augen hat, es scheint ein Feminismus zu sein, der kein Problem mit Rassismus hat und der nicht bereit ist, rassistische Formen und Praktiken der Macht zu verurteilen. Dies aber ist ein bornierter Feminismus, der sich nicht darum bemüht, sein Verständnis der Achsen von Ungleichheit zu vertiefen und seine solidarischen Bindungen zu ­erweitern.“

In der Butlerschen Diktion bedeutet das wohl: die Zerstörung der Hörbarkeit selbst. Oder auch: Hate-Speech.

Diese Frauen können allerdings noch nie eine EMMA gelesen haben (wie so viele von EMMAs Kritikern) – oder sie sind schlicht borniert oder bösartig. Oder aber sie schreiben einfach bei den (meist linken) Verleumdern im Netz ab, die EMMA seit Jahren des „Rassismus“ bezichtigen.

Warum? Weil EMMA seit 1979, seit der Machtübernahme von Khomeini im Iran, vor der Offensive des politisierten Islams warnt. Denn die ersten Opfer der Islamisten waren und sind Musliminnen: erst die Frauen, dann die Intellektuellen und Künstler, die Homosexuellen und sodann alle, die noch nicht auf den Knien liegen. Die Juden nicht zu vergessen.

Ich bin seit Jahrzehnten in Deutschland eine der wenigen Stimmen – lange die einzige –, die strikt unterscheidet zwischen Islam (dem Glauben) und Islamismus (der Ideologie). Doch das schert meine Verleumderinnen nicht. Dreist behaupten sie gebetsmühlenartig, ich sei eine „Islamkritikerin“ (Dabei habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie zum Islam geäußert). Sie unterscheiden so wenig zwischen Islam und Islamismus, wie Pegida oder die AfD es tun.

Die Butlermania hat manche AkademikerInnen verwirrt: Sie können kaum noch politisch denken.

Das gleiche Muster bei der Kölner Silvesternacht: Im Mai 2016 habe ich dazu ein Buch herausgegeben („Der Schock“). Vier von acht Autoren dieser Anthologie sind aus dem muslimischen Kulturkreis, weil besonders betroffen, ergo besonders kundig: zwei Algerierinnen, eine Deutsch-Türkin, ein Deutsch-Syrer. Sie alle vertreten wie ich uneingeschränkt die These: Es handelte sich bei der Gewalt aus den Reihen der etwa 2000 jungen muslimischen Flüchtlinge und Illegalen auf dem Kölner Bahnhofsplatz nicht um individuelle Ausrutscher, sondern um eine politische Demonstration: Uns Frauen sollte gezeigt werden, dass wir am Abend nichts zu suchen haben im öffentlichen Raum – oder aber Flittchen und Freiwild sind. Von Kairo bis Köln. Die Silvesternacht ist nicht zufällig weltweit zum Symbol geworden; sie war eine neue Variante dessen, was der französische Islamexperte Gilles Kepel den „Dschihadismus von unten“ nennt.

Das nicht erkennen zu wollen, ist in der Tat rassistisch. Denn es nimmt alle Muslime in Zwangsgemeinschaft mit diesen frustrierten, entwurzelten, fanatisierten Männern. Es ignoriert, dass der Geist, in dem die Männer in Köln gehandelt haben – dieses fatale Gebräu aus patriarchaler Tradition und fundamentalistischem Islam – keineswegs gleichzusetzen ist mit „dem“ Islam.

In Algerien, wo ich gerade ein paar Wochen verbracht habe, waren alle, mit denen ich sprach, entsetzt über das Wüten der fundamentalistischen Muslime und ihren Terror in der Welt. Sie schämen sich dafür. Die Algerier kennen den islamistischen Terror aus eigener, leidvoller Erfahrung.

Vielleicht sind die sektiererischen Butlerschen Denkkonstrukte von manchen Anhängern noch apodiktischer rezipiert worden, als sie gemeint sind. Diese jungen Akademikerinnen und Akademiker sind damit für ein wissenschaftliches und politisches Denken verloren. Das ist, neben der Verleumdung ihrer Kritiker, die wohl gravierendste Verantwortung von Butler & Co.

„Grabenkämpfe“ betitelte die Zeit den Text von Butler und Hark. Da ist die „Schlammschlacht“ nicht weit. Dabei geht es um so viel mehr: nämlich um die elementarsten Menschenrechte der Frauen in unserer Welt. Denn es gibt sie noch, die Frauen! Und ihnen macht gerade ein gewaltiger Rollback zu schaffen: von Trump bis Erdoğan, vom Konsumwahn bis zur Zwangsverschleierung. Gehen wir es an.

Alice Schwarzer

 

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Butler erhebt "Rassismus"-Vorwurf

Soziologin Sabine Hark, Gender-Hohepriesterin Judith Butler und LinguistIn Profx Lann Hornscheidt
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Wer Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre an Universitäten in Berlin oder Freiburg das Studium der damals neu eingerichteten Gender Studies aufnahm, befasste sich überwiegend mit Sujets, die der Literaturwissenschaft und der Psychoanalyse entlehnt waren: Wissen über die Wirkung geschlechtlicher Repräsentationsformen sollte, so die mit der Gründung des Fachs verbundene Hoffnung, das Bewusstsein für die Historizität der Geschlechterrollen und damit auch für deren Veränderbarkeit schärfen.

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Zwei Jahrzehnte später sind die meisten Lehrveranstaltungen der Geschlechterforschung an solchen Fragestellungen desinteressiert – und an der Frauenemanzipation als solcher. Gender-Studies-Kurse tragen nunmehr Titel wie „Muslim Queer Subjectivities and Islamic Ethics“ oder „Einführung in die interdependente VerRücktheitsforschung/Mad Studies“. Viel diskutierte Postulate heißen „Critical Whiteness“, „Intersektionalität“ oder „Femonationalismus“.

Der queerfeministische Nachwuchs pöbelt auf dem Campus, in den Straßen und im Internet gegen „weiße Cis-Männer“, gegen "TERFS" (trans exclusionary radical feminists, also radikale Feministin, die Transmenschen ausschließt) oder "SWERFS" (sex worker exclusionary radical feminist, also radikale Feministin, die Sexarbeiterinnen ausschließt), prangert unentwegt „Privilegien“ anderer an, fordert geschlechtsneutrale Pronomen ein und sinniert mit weinerlicher Verve über „Verletzbarkeit“. Das persönliche Leiden an der Welt wird zum wissenschaftlichen Thema verklärt, Schuld für das eigene Befinden als Dritte personifiziert.

Die meisten Seminare sind uninteressiert an der Frauen-Emanzipation

Diese Entwicklung ist den Prämissen des Gender-Paradigmas geschuldet, das seinen akademischen Siegeszug in den 1990er Jahren angetreten hat und mittlerweile als Nonplusultra eines nicht-essentialistischen, also nicht-biologistischen Geschlechterverständnisses gilt. Demzufolge seien das soziale wie das biologische Geschlecht "konstruiert", das heißt stets durch Vorannahmen geprägt und nur durch Kultur vermittelbar – bündig: es gäbe keine Natur bzw. keine Realität hinter ihnen. Diese Annahme wird von der Queer Theory gestützt, welche den gleichen Gedanken auf das Sexuelle ausweitet.

Und sie wird von den Postcolonial Studies flankiert, die das Nachleben des Kolonialismus untersuchen. Dieser Aufmerksamkeitswechsel gilt in der Geschlechterforschung als bedeutsame Weiterentwicklung, weil damit Fragen des „minoritären“ Begehrens und des Rassismus auf die wissenschaftliche Agenda gesetzt worden seien, welche die historische Frauenforschung einst ignoriert habe. Was daraus folgt, ist vorrangig ein (Ver-)Urteilen um der Rüge, nicht um der Erkenntnis wegen. Mit dem Rotstift werden akademische Texte, gesellschaftliche Phänomene oder politische Probleme darauf abgeklopft, ob sie „sexistisch“, „rassistisch“, „homophob“ oder „transphob“ sind. Von dort ist der Weg zu Sprechverboten nicht weit.

An den beiden verstrichenen Jahrzehnten ist noch etwas anderes auffällig: Nicht eine Arbeit aus den Gender Studies hat eine gesellschaftspolitische Debatte geprägt oder zumindest vorangetrieben. Ein Umstand, der unzweifelhaft der Unverständlichkeit der verwendeten Begrifflichkeiten sowie dem "methodischen" Vorgehen geschuldet ist und im merklichen Kontrast zu Arbeiten aus der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder der Politikwissenschaft steht. Nicht eine deutsche Professorin für Geschlechterforschung hat eine bahnbrechende These formuliert, die breite Anerkennung in der internationalen Wissenschaftslandschaft erfahren hätte. Es ist zudem keine Absolventin der jungen Disziplin bekannt geworden, die eine beachtliche Nachwuchskarriere hingelegt hätte.

Im Gender-Clan herrscht einzig ein Judith-Butler-Monolog

Hiervon unbeirrt regiert in den Gender Studies weiterhin das Selbstbild, unverzichtbare universitäre wie gesellschaftspolitische Arbeit zu leisten. Die Fachgesellschaft Geschlechterstudien – der akademische Zusammenschluss aller, die an deutschen Hochschulen in den Gender Studies arbeiten – versteht das eigene Tun beispielsweise als wissenschaftlichen Ausdruck einer dem „Nichtanerkannten und Prekären verpflichteten Gesellschaft“. Die geistige Offenheit und kritische Distanz, die mit dieser Formel suggeriert werden, sind eine Farce: im Gender-Clan herrscht kein Dialog zwischen widerstreitenden Standpunkten, sondern einzig ein Judith-Butler-Monolog. Und der verhält sich – wie die Vordenkerin – bemerkenswert still, wenn es um die Entwürdigung, Misshandlung und Entrechtung von Frauen weltweit geht.

In den Graduiertenkollegs der Geschlechterforschung werden Promovierende angehalten, Doktorarbeiten über ihre Lieblingsserien abzufassen, statt sich mit den realen Hinterzimmern der deutschen Gesellschaft zu beschäftigen – Frauenhäusern und Gefängnissen beispielsweise. Eklatante Forschungslücken sind augenscheinlich. Eine umfängliche Kritik der Gender Studies am Deutschrap, dessen frauen- und schwulenverachtenden, vor Gewalt nur so strotzenden Erzeugnisse sich millionenfach verkaufen und zu Untersuchungen geradezu einladen: Fehlanzeige. Systematische Erhebungen zum Geschlechterbild von Moscheepredigern in Europa: ebenso. Analysen zu den zehntausenden jungen Männern und Frauen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und anderen Staaten, die sich dem Jihad in Syrien angeschlossen haben: inexistent.

Das Fach bildet nicht zur Problemlösung aus, sondern vorrangig zum Beanstanden des Sprechens Dritter über etwas. Unmittelbares Resultat sind überproportional viele Dissertationen, die lediglich damit befasst sind, wie etwas medial dargestellt oder wissenschaftlich verhandelt wird.

Warum untersuchen die Gender-Studies nicht das Frauenbild von Moscheepredigern?

In diesem Geiste geschulte Arbeiten zeigen deshalb, wie es in der Geschlechterforschung wirklich um das „Nichtanerkannte und Prekäre“ bestellt ist. Daniela Hrzán, Gender-Expertin für das Reden über Genitalverstümmelung, hat in einer Reihe von Texten gemahnt, statt von „Female Genital Mutilation“ lieber von „Female Genital Cutting“ zu sprechen: Nicht etwa der barbarische Akt sei menschenverachtend, sondern der Begriff „Verstümmelung“, da dieser nahelege, dass die Betroffenen unter dem gewaltsam Erlebten leiden. Die Kulturwissenschaftlerin weiß es besser: „Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass erfüllte Sexualität nicht zwingend mit Orgasmusfähigkeit in Zusammenhang gebracht wird“, schreibt sie in beiläufiger, doppelter Niedertracht gegenüber den Opfern von Rasierklingen und Messern und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.

In gleichem Tonfall moniert Ann-Kathrin Meßmer, Gender-Expertin für das Reden über Intimchirurgie, dass Schriften zur Genitalverstümmelung ‚die afrikanische Frau’ als „sich nach westlichen Standards zu emanzipierende“ adressieren würden. Westliche Standards wie Menschenrechte, Frauenemanzipation und Religionsfreiheit, die Meßmer ganz selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nimmt – darauf sollen Tausende Mädchen, die tagtäglich dem inhumanen Ritual unterworfen werden, keinen Anspruch haben: vielmehr sollen sie vor „Verwestlichung“ geschützt werden.

Das Wort Terrorismus "generalisiert Massenmord als illegitim"

Claudia Brunner schließlich, Gender-Expertin für das Reden über Selbstmordattentate, leitet einen Artikel mit der rhetorischen Frage ein, ob es nicht besser wäre, statt von „Female Suicide Terrorism“ von „Female Suicide Bombing“ zu sprechen, da erstere Bezeichnung Massenmord „als illegitim generalisieren“ würde. Schlimmer noch: „Geläufige Darstellungen von Suizidbomberinnen tendieren dazu, historische westliche kolonialistische Auffassungen von Frauen aus der Dritten Welt widerzuspiegeln, gelenkt von imperialistischen Ansichten und deren spezifischen okzidentalistischen Genderismen, so die Autorin, die in einem Interview noch beklagte: „Terroristen werden durch ihre mediale Darstellung ausschließlich als brutal und irrational gezeigt, um dadurch ihre politischen Ziele unsichtbar zu machen [...] Die Terroristinnen werden als Monster dargestellt. Dutzende, bisweilen Hunderte von Menschen, die durch ein einziges Selbstmordattentate zerfetzt oder auf Lebenszeit entstellt werden, sind der Gender-sensiblen "Analyse" einer Claudia Brunner nicht eine Zeile wert.

Abermals ist es die Vordenkerin des Gender-Paradigmas, die inspiriert. Judith Butler schwärmte vor einigen Jahren von den Terrororganisationen Hamas und Hisbollah als „progressiv“ und nannte sie einen „Teil der globalen Linken“. Auch ihre Faszination für die Burka hält die Philosophin nicht zurück. Das mobile Stoffgefängnis sei eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“, das nicht etwa Frauen zum Verschwinden bringt, sondern einen „Schutz vor Scham symbolisiert“ und deshalb zu konservieren sei: „Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen, die Spuren hinterlassen wird. Wir sollten keineswegs davon ausgehen, dass Verwestlichung immer eine gute Sache ist. Sehr oft setzt sie wichtige kulturelle Praktiken außer Kraft, die kennen zu lernen es uns an Geduld fehlt.“ Frauen kennenzulernen, die von den Taliban unter Androhung des Todes kollektiv in menschliche Säcke verwandelt worden sind, oder denen für missfälliges Verhalten bei lebendigem Leib Nasen und Ohren abgeschnitten wurden: die hierfür notwendige Geduld fehlt vor allem einer Judith Butler. Die angebliche Entzauberin geschlechtlicher Identitäten als Gralshüterin islamistischer Kleiderordnung – eine geistige Allianz des Grauens.

Auch die deutschen Fans der Burka-Apologetin haben sich längst auf deren antiimperialistisches Weltbild eingeschworen. Dem gilt alles „Westliche“ a priori als verdächtig, alles „Nicht-Westliche“ hingegen a priori als zu bewundern, zu erhalten und vor Kritik zu schonen.

Judith Butler:
Die Burka ist eine Übung in Bescheidenheit

Bettina Mathes ist, gemeinsam mit Christina von Braun, Co-Autorin der 2007 erschienenen Islam-Eloge „Verschleierte Wirklichkeit“, in der sich u.a. eine überaus devote Aufforderung zur Selbstzensur findet. Kritik an jener Religion solle unterlassen werden, stattdessen sei die „Gewalt auslösende Wirkungsmacht symbolischer und unbewusster Ordnungen im Umgang mit dem Fremden ernst zu nehmen“ weniger verschroben: Wer Meinungsfreiheit anhängt, dürfe sich nicht wundern, wenn Gläubige mit Mord und Mordversuchen auf Filme und Karikaturen reagierten – so etwa 2004 bei dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh oder 2010 bei dem dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard. Schon während ihrer Zeit als Gender-Studies-Dozentin an der HU Berlin verfolgte Mathes einen antiimperialistischen Kurs. Zwei kritische Studenten verleumdete sie einmal für das „Verbreiten islamfeindlicher Parolen“; einen davon hatte sie sogar vor die Tür des Seminarraums gesetzt. Studierende hingegen, deren Familien in die Bundesrepublik eingewandert waren, pries sie dafür, sich „für ‚das’ Fremde und ‚den’ Islam zuständig zu fühlen“ – kein didaktisches Lob, sondern ein Aufruf zum Pflegen kultureller Identität, völkischen Vorstellungen nicht unähnlich. Mathes betrieb eine Weile lang einen privaten Blog, auf dem sie einst ein „Argument for the Burqa“ veröffentliche, die sie als Schutz vor einem ominösen männlichen Blickregime anempfahl.

In den letzten Jahren hat sich Sabine Hark, an der TU Berlin Professorin für Soziologie (WDR: „Deutschlands wichtigste Genderforscherin“), als unermüdliche Streiterin für einen „antiimperialistischen Egalitarismus“ zu profilieren versucht – eine Formulierung, die sie einer Schrift ihrer philosophischen Ikone entnommen hat. Dass sich jeder Neonazi, jeder Dschungel-Guerillero und jeder Islamist auf seine Weise als Kämpfer für einen „antiimperialistischen Egalitarismus“ verstehen dürfte, ist der politisch ahnungslosen Akademikerin herzlich egal: Was Judith Butler denkt, wird schon stimmen. Entsprechend werden Prioritäten gesetzt. Nach der Silvesternacht in Köln initiierte Hark nicht etwa empirische Erhebungen, um Informationen über die Zusammensetzung der patriarchalen Meute am Hauptbahnhof zu gewinnen, sondern sinnierte darüber, wie der „Feminismus von der Borniertheit der Ersten Welt zu lösen“ sei.

Das Studium der Gender Studies macht die Studierenden nicht schlauer

Ein 2017 gehaltener Vortrag von Gabriele Dietze an der Universität Basel bekrittelte „sexualpolitisch aufgeladene okzidentale Überlegenheitsnarrative“, um „paradoxe Rückkopplungsaspekte von Fremd- und Eigenwahrnehmung zu erfassen". Sind noch Fragen, oder droht schon Migräne?“, wunderte sich NZZ-Journalistin Birgit Schmid angesichts dieser Zeilen. Der angestrengte Jargon schaukelt gewichtige Denkleistungen vor, der junge Erwachsene weder zum kritischen Befragen der Gegenwart animiert, noch zu unabhängigen Denkerinnen und Denkern ausgebildet – sie werden vielmehr eingeschüchtert. Weil sie unweigerlich annehmen, dass das, was sie in einem universitären Rahmen zu hören bekommen, intellektuell gewichtig sein muss, wird ihr Verstand nicht geschärft, sondern vernebelt.

Konkreter: Das Studium der Gender Studies macht Studierende oftmals nicht schlauer, sondern in vielen Fragen dümmer. Sie lernen nicht, globale Probleme objektiv zu erfassen, sondern sie durch eine hochgradig antiimperialistische Agenda zu filtern. Ein Workshop, den Dietze zu „Ethnosexismus und Migration“ anbot, befasste sich etwa mit „abendländischen Überlegenheitsnarrativen, zum Beispiel der Demokratie als der besten aller Regierungsformen, der Säkularität als der besten aller Rationalitäten“. Womit „der Überzeugung“ widersprochen werden sollte, dass die westliche Welt über „ein maximal fortgeschrittenes sexuelles Regime“ verfügen. Die Verächtlichkeit gegenüber Rechtsstaatlichkeit und Religionsfreiheit, die sich durch diese Botschaft aus dem akademischen Paralleluniversum zieht, ist ebenso offenkundig wie die subkutane Faszination für religiös legitimierte Diktaturen, in denen es weder das eine noch das andere gibt.

Auch auf den ersten Blick unpolitisch daherkommende Variationen des Sündenbock-Prinzips finden sich in den Gender Studies zuhauf. Prominent vertreten wird das antimännliche, antiheterosexuelle Ressentiment etwa von Lann Hornscheidt, bis 2016 „Profx“ für Linguistik an der HU Berlin. Die sich selbst als „geschlechtslos“ fühlende Person fordert auf der Website xart splitta wortwörtlich zu „Interventionen“ gegen das cis-männliche Patriarchat auf. Als solches hat sie weder Regime wie Saudi-Arabien oder das Afghanistan der Taliban identifiziert, die sich durch maximal repressive Geschlechterordnungen auszeichnen, sondern die letzten Reste der bürgerlichen Gesellschaft: „sätze in romanen unlesbar machen, seiten in büchern rausreissen“, lautet ein Handlungsvorschlag zur Bekämpfung von Prosa oder Analysen, die dem Gender-geschulten Bewusstsein nicht behagen.

Über ein universitäres Milieu, in dem Gabriele Dietze, Sabine Hark, Lann Hornscheidt oder Bettina Mathes als herausragende Denkerinnen gelten, ist schon viel gesagt. Diese Akademikerinnen stehen exemplarisch dafür, dass Gender Studies heute über weite Strecken eine Mischung aus Ressentiment, Gruppentherapie und antiimperialistischer Ideologie sind. Phrasen, Vorbehalte und Schuldbewusstsein tummeln sich dort, wo es um Erkenntnis gehen sollte. Auf einem Postkolonialismus-Symposium an der HU verkündete eine gleichgestimmte Dozentin 2011 folgerichtig Sinn und Zweck ihrer Lehrveranstaltungen: „Ich will, dass sich meine Studierenden einmal richtig schlecht fühlen“ – gemeint war, dass in Deutschland geborene und aufgewachsene Individuen Scham dafür empfinden sollten, westlicher Herkunft zu sein.

Die sich mittlerweile häufenden Einsprüche gegen die Geschlechterforschung werden derweil zu einem Popanz namens „Anti-Genderismus“ aufgebauscht, um sich selbst als bloße Opfer einer gesellschaftspolitischen Regression zu stilisieren. Dass ein Gutteil der Zweifel an den Gender Studies nicht von Hass, Menschenverachtung oder Vorbehalten motiviert ist, sondern schlichtweg durch Skepsis, wird dabei verschwiegen.

Zwischen Feminismus und Gender-Studies klafft ein tiefer Graben

Einen Einblick in das Ausmaß der gegenwärtigen Verblödung gewährten kürzlich der Philosoph Peter Boghossian und der Mathematiker James Lindsay. Sie verfassten einen von vorne bis hinten fiktiven Artikel, der einen Kausalzusammenhang zwischen dem männlichen Genital und dem globalen Klimawandel behauptete. Den schwer mit Gender-Jargon beladenen Text schickten sie an das akademische pay-to-publish Journal Cogent Social Sciences, wo der Beitrag kollegial begutachtet wurde (peer-review). Niemandem fiel auf, dass der Aufsatz bar eines nachvollziehbaren Arguments war, seitenweise Nonsens aneinanderreihte und manche Titel in der Literaturliste frei erfunden waren: Der Schwindel wurde anstandslos veröffentlicht.

Solchen Desastern zum Trotz, die auf schwerwiegende, systematische wissenschaftliche Mängel hinweisen, die vom Vokabular bis zur Veröffentlichungspraxis reichen, sehen Sabine Hark und Paula-Irene Villa, Herausgeberinnen des ersten Sammelbands zum Thema „Anti-Genderismus“, in der Zurückweisung der Geschlechterforschung vor allem den Ausdruck „einer staatskritischen Haltung“. Den beiden Soziologinnen ist offenbar unbekannt, dass die Neue Frauenbewegung in den 1970er Jahren eine besonders vehemente Distanz zum Staat wahrte, was damals u.a. die Selbstbezeichnung autonome Frauenbewegung ausdrückte. Diese Amnesie versinnbildlicht den tiefen historisch-politischen Graben, der zwischen Feminismus und Geschlechterforschung liegt. Der Zustand letzterer gibt Anlass zu der Annahme, dass die Gender Studies nicht die kritische Weiterentwicklung feministischen Gedankenguts sind, sondern der akademische Sargnagel der Frauenemanzipation.

Vojin Saša Vukadinović

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Beissreflexe - Gewalt als Antwort auf Kritik
Identitäten - Das Ende des Frauseins
Schutzräume - Ausschluss von Denken & Welt?
Verdrängung - Die Lehre aus Orlando

Weiterlesen: "Beißreflexe", hrsg. von Patsy l'Amour laLove (Querverlag 16,90 €)
 

Vojin Saša Vukadinović studierte Geschichte, Germanistik und Geschlechterforschung in Freiburg und Basel und arbeitet heute als Historiker.

Alle Nachweise für Zitate können auf Wunsch bei der Redaktion angefordert werden.

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