Die neue Schamlosigkeit
Der Fall des Hollywood-Tycoons Harvey Weinstein, der von Schauspielerinnen wie Ashley Judd, Angelina Jolie und Gwyneth Paltrow sowie etlichen weiteren Frauen der sexuellen Belästigung (bis hin zur Vergewaltigung) beschuldigt wurde, hat nicht nur in den USA eine wahre Lawine an Belästigungsvorwürfen losgetreten: Immer mehr Männer in Machtpositionen wurden in den vergangenen Wochen in der gesamten westlichen Welt der sexuellen Übergriffe am Arbeitsplatz angeklagt. Nachdem im letzten Frühjahr erst der inzwischen verstorbene Medien-Mogul Roger Ailes, sodann der schwarze Vorzeige-Daddy und Komiker Bill Cosby, sowie der mächtige „Fox“-Moderator Bill O’Reilly wegen sexueller Nötigung den Hut nehmen mussten, vergeht inzwischen kein Tag, an dem nicht ein neuer Skandal öffentlich wird. Und erstmals sieht es so aus, als ob – vom Pussy-Grapscher im Weissen Haus einmal abgesehen – dies für die Beschuldigten nicht ganz ohne Konsequenzen abgehen wird.
Die Wucht der Empörung ist neu, das Problem ist alt.
Einer der einflussreichsten Männer der Welt, reich, gebildet, mit Aspiration auf das französische Präsidentenamt, wurde im Mai 2011 der versuchten Vergewaltigung eines schwarzen Zimmermädchens beschuldigt. Der 62-jährige Politiker und Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, soll in der Suite eines New Yorker Luxushotels mitten am Tag eine zufällig hereinspazierende Hotelangestellte zum Oralsex gezwungen haben. Von allen Ungereimtheiten dieses Falls einmal abgesehen – der hochangesehene Politiker hatte nicht zum erstenmal keinerlei Hemmungen, mit seinem aggressiven und schamlosen Gebaren Frauen gegenüber einen Skandal zu riskieren.
Auch Anthony Weiner, der demokratische Abgeordnete aus New York, geriet in die Schlagzeilen. Weiner hatte auf Twitter ein Bild seines halb erigierten Penis in grauem Feinripp gepostet – in der irrigen Annahme, sein bestes Stück sei nur für die junge Frau einsehbar, der er diese Pracht online zukommen lassen wollte. Es geschah, was in solchen Fällen geschehen muss: Ein Blogger stürzte sich auf das Bild, und die Aufnahme verbreitete sich in Windeseile. Weiteres anzügliches Bildmaterial tauchte auf, und Weiner ließ eiligst verlauten, konservative Gegner hätten sein Twitter-Konto geknackt.
Drei Tage später dann gestand der Politiker schluchzend vor den versammelten Kameras, er habe sich über die letzten drei Jahre gegenüber mindestens sechs jungen Anhängerinnen in dieser pikanten Form online in Stellung gebracht; darunter auch Minderjährige. Der demokratische Hoffnungsträger und aussichtsreiche Aspirant auf das New Yorker Bürgermeisteramt, dessen inzwischen geschiedene Frau, eine enge Mitarbeiterin Hillary Clintons, das erste Kind erwartete, gab seinem Scham-Eingeständnis eine höchst verräterische Form: „I don’t know what I was thinking“, erklärte er der erstaunten Öffentlichkeit. Der Satz darf wohl als Mantra der sexuellen Enthemmung im Medienzeitalter gelten.
Weiner hat sich als unverbesserlicher Wiederholungstäter entpuppt; wegen Sexting mit einer Minderjährigen wurde er im September 2017 zu 21 Monaten Freiheitsstrafe verknackt.
Männer in Machtpositionen hegen seit je überdurchschnittlich oft das Gefühl, unangreifbar zu sein – und die Verhältnisse geben dieser Annahme immer noch meistens recht. Doch in einer Medienlandschaft, die von der Skandalisierung privater Verfehlungen lebt, wird das Verhältnis von Schamanlässen und Camouflage, Geständniszwang und Überführungsgestus inzwischen gänzlich neu aufgemischt. Es konnte nicht ausbleiben, dass die alte Trias von Macht, Geld und Sex im Internet Enthemmungen eines neuen Typus gebar. Zugleich wohnen wir einer Entwicklung bei, die aus der genuinen Angst vor Blamage den nicht immer bewussten Drang, sich selbst bloßzustellen, gebar. Wo jeder öffentlich sein kann, steigt die Konkurrenz um das kostbarste Gut: Aufmerksamkeit. Überbietung heißt das Gebot der Stunde.
War einst die Parade der eigenen Vorzüge die gebräuchlichste Art der Selbstdarstellung, so scheint heute die freiwillige Erniedrigung zu einer beliebten Form der Selbstvermarktung avanciert zu sein. Dabei sieht es so aus, als teste man die Grenzen der öffentlichen Entblößung vor allem deshalb verzweifelt aus, weil sich sonst niemand für die eigene Person interessiert.
Freilich ist es auch bei der offensiven Zurschaustellung von Intimitäten häufig die Scham, die sich das Internet zur Plattform wählt, um preiszugeben, was von Angesicht zu Angesicht nicht verhandelbar wäre. Der Doppelcharakter der Scham, das Entblößen im Verhüllen, wird im Internet womöglich am effizientesten instrumentalisiert: Ohne den Schutz der Online-Distanz, die den Körper und damit die affektive Grundlage der Scham neutralisiert, wären viele Indiskretionen wohl gar nicht mitteilbar.
Paare zum Beispiel, die ihre Ehekrise mit allen unappetitlichen Einzelheiten im Netz ausbreiten, haben nicht allein einen größeren Zeugenkreis, sondern auch den Vorteil, dass diese Zeugenschaft ohne spürbare Betretenheit in Anspruch genommen werden kann – als pur voyeuristischer Akt, der dem Publikum zudem noch ein gewisses Überlegenheitsgefühl zu gewähren vermag. Dabei hat der Impuls, das schale Liebesleben oder den ständigen Krach einer – mehr oder weniger – imaginären Öffentlichkeit detailfreudig auf die Nase zu binden, einen kurzfristig befriedigenden und scheinbar therapeutischen Neben-Aspekt: Der Partner kann die Anschuldigungen nur im Nachhinein parieren.
Früher fand diese Form der Zerfleischung meist unter fortgeschrittenem Alkoholeinfluss im Freundeskreis statt – das Paradestück für den voyeuristischen Mehrwert solcher Zweikämpfe ist Edward Albees Drama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Elizabeth Taylor und Richard Burton haben dieses Paradigma einer zerrütteten Ehe in den 1960er-Jahren mit durchschlagendem Erfolg auf die Leinwand gebracht – durchschlagend um so mehr, als jedermann wissen konnte, dass es bei dem berühmten Paar zu Hause nicht anders zuging.
Im digitalen Raum aber hat selbst jede vollzogene Trennung ein endloses Nachspiel. Paare, die den Austausch von Passwörtern für ihre Online-Aktivitäten als Vertrauensbeweis und Währung ihrer Intimität begreifen, sehen sich nach einer Entzweiung nicht nur mit einer Flut an intimen Bildern und Informationen konfrontiert, die sie gerne in die Anonymität zurückholen würden, sondern auch mit einem Netzwerk aus so genannten Freunden, die sich bemüßigt fühlen, die jeweiligen Partner auch fürderhin vom Treiben des oder der Ex-Geliebten in Kenntnis zu setzen. Während man früher den anderen einfach mit der Schere aus dem Bild entfernen konnte, liefert die ubiquitäre Online-Präsenz intimer Momente eine Bilderflut Scham auslösender, überholter Verhältnisse.
Die bereits Mitte der 1970er-Jahre von Richard Sennett beklagte „Tyrannei der Intimität“ ragt inzwischen in jede Seelennische. Das Bedürfnis nach Zeugenschaft oder auch nur der Wunsch, die Wahrnehmung auf sich zu ziehen, hat heute freilich noch eine gesteigerte masochistische Komponente – davon zeugen die Unmengen von Reality-Shows, in denen sich Menschen aus freien Stücken vor aller Welt bloßstellen
lassen. Der Erfolg von Heidi Klums aus Amerika importierter Casting-Show „Germany’s Next Topmodel“ ist beispielhaft für die zynische Qualität solcher Fernsehformate.
Heidis minderjährige „Mädels“, die für die Illusion, demnächst als Topmodel über den Laufsteg großer Designer zu staksen, verbale Demütigungen einstecken müssen, die jeden halbwegs empfindsamen Menschen schaudern lassen, unterwerfen sich Ritualen, die an Bordell und Standgericht denken lassen. Es versteht sich, dass diese Arrangements weniger mit dem Modelberuf als mit der pornografisch-sadistischen Phantasie der Show-Produzenten und der Schadenfreude der Zuschauer zu tun haben. Halbnackt müssen die jungen Mädchen im Eis posieren, Kakerlaken und Frösche auf ihrer Haut erdulden und wie im Rotlichtmilieu an der Stange tanzen, bis sie blau und grün sind. Schlimmer noch aber ist der eiskalte Kasernenhofton, mit dem die Model-Mutti Klum den heulenden Aspirantinnen ihre Mängel um die Ohren haut. Den Kandidatinnen tritt die Pro-7-Ikone in einem unberechenbar raschen Wechsel von scheinbar gutmeinender Freundin und gnadenloser Scharfrichterin entgegen, die ihr Urteil erst fällt, nachdem sie die Ausgemusterte ordentlich zappeln lassen hat.
Mögen die harschen Urteile, die Klums selbstgefälliges Jury-Regime mit autoritärem Gestus fällt, auch der Brutalität des Model-Business selbst entspringen (wie Klum stets betont), die allen Wettbewerbsshows eigene Dramaturgie, in der die Starken vor laufender Kamera vernichtende Urteile über die Schwachen fällen, ist eine mit der Wucht der Beschämung arbeitende Inszenierung, die sogar zuverlässiger Quote macht als Sex und Gewalt. „Forget the Sex and Violence; Shame Is the Ratings Leader“ lautete unlängst die Überschrift eines Artikels über Entwicklungen auf dem Markt der Reality-Shows in der New York Times.
Natürlich muss der Schamfaktor ständig gesteigert werden; noch die größte Peinlichkeitsinszenierung nutzt sich in der ewigen Wiederholung ab. Weshalb diese Sorte Shows immer absurdere Züge trägt. Ob versteckte Kameras im Bordell, Wettbewerbe im totalen Erschöpfungszustand (die Kandidaten konkurrieren unter tagelangem Schlafentzug), Zickenkriege unter „Real Housewives“ (neuerdings im Mafia-Milieu) oder Sendungen, in denen der erbauliche Kampf ums Familienerbe im Fernsehstudio ausagiert wird, stets ist die Demütigung, das so genannte Fremdschämen, der Kick dieses hämischen TV-Formats.
Dabei ist das Prestige, „im Fernsehen aufgetreten“ zu sein, für die Beteiligten offenbar so bestechend, dass der Glanz des 45-minütigen Ruhms das Elend seiner Bedingungen weitgehend zu überstrahlen vermag. Sich im TV Container oder im Dschungelcamp zu blamieren, ist für viele immer noch besser, als gar nicht sichtbar zu sein. In Wettbewerbsshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ kommt, ähnlich wie bei Heidi Klum, die alte Form des Tribunals wieder zu Ehren – der Pranger, an dem Leute öffentlich bestraft und unbekümmert gedemütigt werden durften.
Da bibbern junge Männer mit eingenässter Hose im grellen Licht der Beschämung oder brechen auf der Bühne zusammen, und RTL-Zuchtmeister Dieter Bohlen tritt noch feixend nach. Schließlich sucht der Privatsender die Kandidaten für Bohlens Show nach Kriterien wie Drogenproblemen, Knasterfahrung und Selbstmordversuchen aus. Die unterwürfige Art, mit der Hohn und Tadel oder, schlimmer noch, Lob von den Aspiranten solcher Blamage-Shows entgegengenommen werden, der selbstgefällige und gespielt sadistische Gestus, mit dem die so genannten Juroren – meist selber alles andere als satisfaktionsfähige Gestalten – die oft in Tränen aufgelösten Kandidaten herunterputzen: All das ist so kalt kalkuliert, dass man sich als Zuschauer eigentlich nur noch winden kann. Gäbe es da nicht das faszinierte Staunen darüber, dass Menschen sich derlei antun mögen.
Ein Teil des Erfolgs dieser TV-Formate verdankt sich vermutlich dem Umstand, dass die Inszenierung der Beschämung anderer im Betrachter das Gefühl der Superiorität auszulösen vermag. Auch die gezielten Gemeinheiten der Konkurrenten untereinander, die zum Skript der Reality-Shows dazugehören, tragen zu dieser Überlegenheitsillusion bei: So schäbig wäre man selber nie.
Doch mögen die einen auch pure Schadenfreude genießen und über die Peinlichkeit der sich Entblößenden lachen – ein Großteil der Zuschauer reagiert wohl eher mit einer ambivalenten Empfindung, in die sich die Identifikation mit dem Gedemütigten mischt. Denn diese Orgie der Schadenfreude würde nicht funktionieren, wäre bei den Zuschauern jegliches Schambewusstsein erstickt. Selbst wer an der Niederlage anderer Freude empfinden kann, spürt noch immer den Stachel der Scham, der ihn selbst mal getroffen hat. Aller Exhibitionismus, ob im Internet oder in den Reality-Shows, nimmt das Schamempfinden in Geiselhaft. Ohne den Schatten der Scham wären auch diese Entblößungsshows ganz ohne Reiz.
Andrea Köhler
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Andrea Köhler: Scham – Vom Paradies zum Dschungelcamp (zu Klampen, 16 €).